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13.Teil (C26-14-005.txt)
C26.14.4 Zum Problem der Verschiebung
Die Kantische “reine Vernunft” geht schwanger mit zwei Arten von Vernunft: die theoretische oder spekulative Vernunft (1) ist für die apriorisch erkennbaren Wahrheiten der physisch beschreibbaren Welt zuständig, also für das, was jetzt schon ist und nie anders sein wird, und kritisiert auf dieser Basis die (denkende Tätigkeit) der reinen Vernunft, während die praktische Vernunft (2) für die soziale Welt verantwortlich zeichnet. In dieser (2) “ist” weiß Gott nicht alles, wie es sein “soll”, wobei das Soll sich im Ist, und das heißt empirisch beschreibbar, nicht zu erkennen gibt. Im Innenleben kann freilich “etwas” apriori freigelegt werden, das von praktisch-moralischer Bedeutung ist; es handelt sich dabei um eine “Wahrheit”, die sich im intersubjekten Kontext – empirisch in Rede und Gegerede, resp. als ein Außen – nicht zu erkennen gibt, aber dennoch eindeutig im Innenleben – als sei sie ein “Etwas” – identifizierbar ist, wenn auch empirisch nicht beschreibbar. An diesem apriorischen “Etwas” (im Innen) hat sich Kant zufolge die empirisch beschreibbare moralische Welt (das Außen) auszurichten, wenn denn werden soll, was noch nicht ist: eine glückselige Welt, in der Mittel und Zweck zusammen fallen, sich gleichsam versöhnen, wie gesagt im Konjunktiv, im Sinne einer Verheißung, dazu verurteilt, nur vorgestellt zu werden, ohne Berührung zur empirischen – im Mittel-Zweck-Denken gefangenen – sozialen Realität.
In einer solchen konjunktiven Welt zu erhoffender Versöhnung (Kap.14.1), ohne Berührung zur empirisch-sozialen Realität, hat der Begriff der Verschiebung (des Gefühls im Objektbezug) keinen Platz. Bei Freud gab es die Verschiebung als begriffliche Entität, aber invariant und festgefügt auf Ödipus gerichtet, was die Verschiebung in Freuds Augen vermutlich erst zu einem verwendbaren Begriff machte im Sinne einer erfolgreichen Therapie machte; wir sprachen von Ödipus als Super-Objekt, sozusagen den Vater aller Objekte, dem Super-Bezug, von dem alle übrigen (Objekt-)Bezüge abhängig sind, sofern sie dem zu therapierenden Sozius zu schaffen machen. (Kap.14.2)
Beispiel: wenn ein Mädchen ihren Freund liebt, meint sie in Wirklichkeit ihren Vater; und wenn sie ihren Freund hasst oder bestraft, meint sie ebenfalls ihren Vater, der sie vielleicht missbraucht hat und Hass und Strafe eigentlich verdient hätte, aber verschont bleibt, obwohl und noch während er sie regelmäßig missbraucht. Oder ihr Vater war nie anwesend, vielleicht zu früh gestorben oder abgehauen, wie auch immer: immer ist es der Vater, der zu schaffen macht. Ihren Freund liebt sie, weil in ihr die Liebe zu ihrem Vater ur- und vorbildlich ausgebildet ist, und wenn es ihn real nicht gab, dann eben nur in der Phantasie, als ein Gefühl, auf das sich dann alle Gefühle stürzen. Kurzum, Vati spielt immer mit, will sagen, er ist immer und überall. Das Gefühl (der Liebe, des Hasses) verschiebt sich vom Vater auf den Freund – im Guten wie im Schlechten. Damit wird die sozial-interaktive Welt auf ein Prinzip reduziert. Verschiebungen bewegen sich in vorgeschriebenen oder vorhersehbaren Bahnen im Interesse einer erfolgreichen Therapie, die, wie im mathematisch-naturwissenschaftlichen Denken, ein standadisiertes, festgeschriebenes Verfahren nahelegen.
Im festgeschriebenen Verfahren, in dem das Objekt der Begierde feststeht, ist es sinnlos von Verschiebung zu sprechen. Spielt im vorgeschriebenen Schema das Gefühl verrückt, meint es stets etwas anderes als es unmittelbar zum Ausdruck bringt, nämlich das abgehobene phantastische Objekt “Ödipus”. Ihm zufolge gibt es Gott und Hitler, weil Vati sich in uns breit gemacht hat und wir ihn nicht vorschriftsmäßig bewältigen. Nicht der Freund ist zu bewältigen, sondern Vati. Vermutlich ist die Welt doch etwas komplizierter, gar unvorhersehbar, auf jeden Fall dort, wo die Theorie praktisch wird und ggf. therapeutisch erfolgreich sein will.
In der Therapie steht die Frage unausgesprochen und daher permanent im Raum, wo denn der Therapeut mit seinen Gefühlen bleibt?, z.B. wenn er seine Therapie scheitern sieht. Was regelmäßig passiert. Hat das Scheitern etwas mit Vati zu tun? Oder ist die Therapie vielleicht einfach nur nicht gut genug, aus den unterschiedlichsten Gründen, z.B. weil sie die äußere Realität nur unter dem ödipalen Aspekt mangelnder innerer Anpassungsfähigkeit und Anpassungsbereitschaft einbezieht, wodurch sie sich einer ernsthaften und überprüfbaren Kritik entzieht – noch dazu, wie absurd, im Interesse einer erfolgreichen Therapie; schließlich möchte sich der Therapeut wohl fühlen, vorhersehbar; und das klappt am besten mit einer Theorie und einem von ihr abgeleiteten vorschriftsmäßigen Verfahren.
Nicht die Anpassung an gegebene soziale Strukturen ist das Problem, sondern die Unfähigkeit von seiten der Therapie, verschiedene Handlungsebenen in unterschielichen sozialen Situationen herauszuheben und bewusst zu machen. Unsere Liebende muss zu ihrem Kunden freundlich sein, selbst wenn ihm nicht nach Freundlichkeiten zumute. Andernfalls verlöre sie ihren Job. Will sie die Beziehung zu ihrem Freund stabiliseren, darf sie nicht immer nur freundlich sein. Eine intime Liebe stellt den Sozius vor besondere Anforderungen, die deshalb verfehlt werden, weil die Beteiligten dazu neigen, Handlungen zu standardiesieren, aus der Neigung heraus, zu verabsolutieren. Die politische Öffentlichkeit ist noch mal ein besonderer Fall. Dort werden von Zeit zu Zeit Verabsolutierunen vom Wähler nicht honoriert. Im Gegenteil: im Job muss er sich ständig anpassen, das machen, was ihm Vorgesetzte sagen oder er setzt seinen Job aufs Spiel. In Beziehungen mag er auch spüren, dass Anpassung nicht immer weiterbringt. Aber auch das Gegenteil bringt nicht weiter. Wie aber entscheiden, was richtig oder falsch ist. Es ist sinnlos, soziale Situationen gleichsam nach bestimmten Eigenschaften zu klassifizieren, die auf mehr oder weniger Anpassung verweisen.
Der Sozius spürt nur, dass in der Politik so manches nicht stimmt. Er lehnt den überangepassten Westerwelle ab. Der wird im Wahlkampf von seinen FDP-Freunden aus Rheinland-Pfalz mittlerweile ganz offen als “Klotz am Bein” empfunden. Das wird er als Vorsitzender seiner Partei nicht überleben. Seine schlichte allzu mechanische Art, sich sozial zu integrieren, kommt beim Bürger nicht mehr an; dessen Gemüt ist wahrlich nicht weniger schlicht gestrickt. Und dennoch: der Bürger spürt etwas, ein Gefühl, das in ihm hochkommt, wenn er Westerwelle erlebt. Dieses Gefühl vermag er nicht einzuordnen. Weil er es in unserer Gesellschaft nicht lernt. Er hat es nicht nötig zu lernen; schließlich kann ihn dazu niemand zwingen, mit schlechten Gefühle, die er lieber verbirgt, umzugehen.
Soziale Strukturen mögen Gefühle produzieren; doch einordnen lassen sie sich nur in einem transparenten kommunikativen Kontext, der nicht ständig unterbrochen wird, sobald er peinlich berührt oder unbequem wird. Der Leser weiß nicht, was es bedeutet, wenn Welt-Online Leserkommentare herausnimmt, die nicht ins Bild passen, das sich Welt-Online von der sozialen und ökonomischen Welt macht. Auch hier spüren die Bürger nur, dass etwas nicht stimmt, unfähig gespürte Unstimmigkeiten auf ihre Welt zu übertragen: auf ihre konkrete und alltägliche Art zu kommunizieren. Sie gucken zu wenig in sich hinein, um zu wissen, was es bedeutet, wenn ihre Kommunikation im Gut-Böse-Schema wurzelt: ihre analytische Arbeit neigt zu Unterbrechungen; Beziehungen, welcher Art auch immer, werden im Gut-Böse-Schema nachhaltig zerstört. Der Bürger stolpert von einer Beziehung in die nächste, insbesondere wenn er jung ist und glaubt, er könne und müsse es sich leisten; dies in einer Zeit vollständiger Atomisierung, in der traditionelle soziale Strukturen immer mehr auseinanderfallen, schon zu sehr auseinandergefallen sind, um Beziehungen quasi-naturwüchsig, gleichsam bewusstlos zusammen zu halten. Wenn der Bürger beim Stolpern wenigstens lernen würde. Das Gegenteil ist eher anzunehmen; er reagiert regressiv, wird aggressiver und läuft zunehmend als tickende Zeitbombe herum.
Noch einmal, die soziale Welt ist zu kompliziert. Sie ist nicht schwarz oder weiß, gut oder böse, sondern grau; sie lässt sich nicht auf ein Prinzip reduzieren, das die Verschiebung infrage gestellt. Der Begriff wird sinnlos, wenn er er immer nur bei Vati endet. Der reduktionistische Verweis auf Ödipus unterschlägt, dass die Bedingungen für den Erfolg oder Misserfolg einer Therapie höchst variabel sind; sie ändern sich ständig, weil die äußeren Strukturen die letzten Hundert Jahre ganz besonders schnelllebig waren und daher immer mehr innere Beweglichkeit erfordern. Deshalb die Vielzahl therapeutischer Methoden, die sich dadurch auszeichnen, dass ihre Erfinder dazu neigen, sie zu verabsolutieren, um sich selbst und die Welt des Therapeuten außen vor zu lassen. Streng genommen müsste der Therapeut in die Analyse einbezogen werden und Gegenstand der therapeutischen Kur sein, um diese erfolgreich für Menschen, die seine Hilfe suchen, gestalten zu können. So etwas hören Therapeuten nicht gern. Sie arbeiten lieber mit Prinzipien (Ödipus), einem vorgeschriebenen Verfahren, das sich dem Prozess wohlfeil applizieren lässt, um sich selbst als begrenzenden Faktor einer erfolgreichen Therapie nicht (in die Analyse) einbeziehen zu müssen. Oder sie lagern ihre Probleme aus und nennen das dann Supervision.
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C26.14.5 Ausbildung des Innen im Dreck
Dennoch, die analytisch-praktische Bedeutung von Verschiebungen steht außer Frage. Sie wäre der Philosophie von Kant nicht vermittelbar, auch nicht für Menschen, die, wie Otfried Höffe, in der Vergangenheit Kantischer Philosophie leben und diese nur nachplappern, als wäre die Zeit die letzten 200 Jahre stehen geblieben. Ich nähere mich Kant, indem ich ihn entlang einer ganz bestimmten Fragestellung interpretiere, ohne den Anspruch, seine Philosophie lebensgetreu oder “richtig” abzubilden, so wie die Besprechung z.B. eines Films nicht dazu da ist, ihn richtig wiederzugeben oder umfassend zu verstehen, sondern entlang bestimmter Fragen, die einen bewegen, zu beurteilen. Und das können durchaus andere Fragen sein als jene, die den Filmemacher oder die Schauspieler bewegt haben mögen.
Mir geht es um die Ausbildung der Innen-Außen-Beziehung. Ich interpretiere in Ergänzung zur obigen Arbeitsthese alle bisherige Geschichte seit dem Alten Testament als (soziale) Arbeit an der Ausbildung des Innen-Außen-Verhältnisses. Und Kant markiert dabei einen Punkt unter vielen in einer Entwicklung, die lange vor ihm begann; vielleicht mit dem Alten Testament; vielleicht vorher. Jedenfalls ist den Juden mit ihrem Auszug aus Ägypten ein revolutionärer Einschnitt gelungen, der in eine neue Ordnung mündete unter der Obhut eines einzigen Gottes, der die Vielgötterei endgültig ablöste, der sich über die Natur wie über die sozialen Ordnung legte im Sinne einer Recht setzenden alles legitimierenden Kraft, ohne selbst Teil dieser Ordnung zu sein. Alles Unheil wurde als Verletzung der göttlichen Ordnung, als Ungehorsam der Menschen gegenüber der sich neu etablierenden Ordnung nach dem Exodus und vierzigjähriger Irrfahrt durch die Wüste interpretiert. Im Exodus und in der Wüste war Gott noch Teil einer Bewegung, beseelt von dem Versprechen, herauszukommen aus dem Dreck, der Verheißung auf das gelobte Land; danach repräsentierte und legitimierte Gott gleichsam als “unbewegter Beweger” (Aristoteles) die neue (soziale) Ordnung.
Wesentliche Voraussetzung für die Ausbildung eines Innenlebens war, dass mit dem einen Gott, dem ganz und gar Anderen, ein abgehobenes Objekt entstand, das von der Natur und dem alltäglichen Nahbereich unendlich weit entfernt war, ohne dass die Verbindung zu den Menschen wegbrach, denn sie projizierten ihre Gefühle auf jenes unendlich weit entfernte Objekt; es geriet zum Ziel unendlicher Sehnsucht (nach Erlösung von irdischer Pein); an ihm hatten sich fortan alle natürlichen und sozialen Dinge (des alltäglichen Nahbereichs) zu bemessen. Das Innenleben differenzierte sich wahrnehmbar heraus als Sehnsucht nach etwas, was nicht da, sondern weit weg war: das gelobte Land als Gegenstand der Sehnsucht und Bedingung zur Ausbildung des Innenlebens. Mit der Verschiebung des Gefühls hin zu einem entfernten Objekt wurde die abstrakte und universale Deutung der Welt möglich, die nicht mehr aus der Welt selbst heraus geschah. Der Mensch sah und fühlte die Welt als ein durch göttliches Recht verfügtes und festgefügtes Außen; und die Stellvertreter Gottes auf Erden: Priester, Könige und ihr Gefolge, sorgten dafür, dass die Menschen dem göttliche Recht nicht nur zugeneigt waren, sondern ihm und damit der irdischen Ordnung auch gehorchten. Sie waren der verlängerte Geist und der strafende Arm Gottes.
Mit Gott als außerirdisches und abgehobenes Objekt schälte sich das Innenleben allerdings auf eine ganz spezifische Art heraus: weit entfernt im intersubjektiven Kontext gestaltbar zu sein, drückte ihm vor allem der Geist(Seele)-Materie(Leib)-Antagonismus seinen Stempel auf. Erst Kant sollte diesen Antagonismus gegen Descartes in eine Innen-Außen-Beziehung überführen. Freilich wurden Innen und Außen ausdrücklich in einem festgefügten Verhältnis zueinander gedacht, das weniger auf Bearbeitung und Beweglichkeit (Verschiebung), als vielmehr auf indifferente (Innen-Außen-)Versöhnung gerichtet ist; indifferent insofern, als Kant dieses Verhältnis so interpretiert, dass es für sich genommen einer Analyse und Bearbeitung nicht zugänglich ist; er sieht das Verhältnis unbeweglich und festgefügt. In diesem Sinne es kein Gegenstand der Veränderung, sondern Gegenstand der Erkenntnis, die auf eine Hoffnung verweist (was dürfen wir hoffen), die, wie oben ausgeführt, notwendig existent ist; freilich nur als apriorisch erkennbare und nur denkbare All-Ursache, die ebenso notwendig auf eine moralisch-soziale Verobjektivierung verweist (was müssen wir wollen), damit eines Tages, vielleicht nach dem Tod, eintrete, was wir nur hoffen dürfen: allgemeine Glückseligkeit
C26.14.4 Vom KI gesteuerte Projektion
Ohne moralische Wahrheit (in uns) dürfen wir nicht hoffen. Für Kant ist das kein soziales Problem, sondern eine Sache der Erkenntnis: schon in der empirischen sozialen Realität liegen identifizierbare moralische Maximen, in denen Kant eine einzige moralische Wahrheit verborgen sieht, die er apriorisch freigelegt sieht, ohne dass diese eine Wahrheit als Teil oder Eigenschaft jenen moralischen Wahrheiten zugerechnet werden dürfen; denn es gibt sie nur im Sinne eines moralischen Gesetzes, einer einzigen moralischen Regel, die immer schon Teil oder Eigenschaft des menschlichen Innenlebens gewesen sei, apriorisch erkennbar, an der sich die äußere soziale Realität, und das heißt: alle moralischen Maximen, notwendig ausrichten muss, wenn sie denn als “vernünftig” (allgemein glückseligmachend) gelten soll.
Das hört sich nicht nur an wie ein Zirkelschluss; es ist einer, freilich ein erhellender; denn Kant nahm den Projektionsbegriff vorweg: Seine Philosophie postulierte explizit ein Innenleben, dem “etwas” apriori, also empirisch nicht beschreibbar, inhärent sei. Es ist die Stimme der Vernunft, die ausnahmslos jeder Mensch, auch der ganz Böse, in sich vernehme. Es ist die Stimme des Guten (im Innen), gegen die Neigung und Trieb (das Böse im Innen) ständig aufbegehren. Die gute Stimme existiere als “Kategorischer Imperativ” (KI); er lautet:
“Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.” (KAI-GMS, 51)
Diese Stimme sei ursprünglich gesetzgebend, ohne ein wirkliches Gesetz, das auf ein empirisch beschreibbares Interesse verweist, zu sein. Und wiewohl jeder Mensch diese Stimme in sich höre, wenn er denkt und handelt nach (seinen) empirisch beschreibbaren Maximen, gäbe es sie, faktisch unbeschreibbar, dennoch als “Faktum der Vernunft”, das das Innenleben vorhersehbar (notwendig so und nicht anders) und realitätswirksam nach außen gestalten könne, im Interesse allgemeiner Glückseligkeit, also aller Menschen, vorausgesetzt, der Mensch gibt der Vernunft (seiner inneren Stimme) eine Chance – gegen alle egoistischen (bösen) Neigungen und Triebe. Das wäre dann wirkliche Aufklärung: der Austritt des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Das heißt, man fühlt sich nicht mehr Gott verpflichtet, sondern einer “guten” inneren Stimme, der man fortan zu gehorchen habe, damit wir begründet auf allgemeine Glückseligkeit im Diesseits, aber auf jeden Fall im Jenseits hoffen fürfen, sofern wir das würdige Glück, wie sich Kant ausdrückte, im Diesseits nicht mehr erleben.
An dieser Stelle wird wieder klar, dass Kant, tief gläubig, der sozialen und ökonomischen Realität einen Persilschein ausstellte. Er projizierte das von ihm Erdachte, also seine Wünsche, einfach nur in den Menschen hinein, nachdem sie die Moral (Gottes Gesetz), nach Innen verschoben hat. Das Gute, wie ein Mensch zu sein hatte, war nun der wesentliche Teil des Innenlebens. Es kommt in einem Satz zum Ausdruck (KI), den ausnahmslos alle Menschen in sich vernehmen, unbenommen davon, dass der Mensch nach außen hin anders dachte und handelte. Doch die soziale Realität bekümmerte Kant nicht; man könnte darüber frohlocken: endlich eine Philosophie gegen den Tatsachenfetisch; das, was ist, gehe nicht in der Tatsache auf. Das Gegenteil ist bei Kant der Fall. Seine kritische Haltung gegenüber der Tatsache mündete ohne Umwege in den Strukturfetisch: die Verknüpfungen zwischen den Tatsachen, um die es in der Tat primär ging, wurden fetischisiert, um zugleich die Tatsachen (Dinge an sich) zu verhüllen, mithin in die Bedeutungslosigkeit zu verbannen. Wie wir schon sagten: die Verknüpfungen waren für Kant keine Eigenschaften der Tatsachen. Das ist nicht unser Begriff von Metaphysik. Wir ignorieren nicht die (sozaile) Tatsache, sondern wir analysieren sie (Ist), und meinen, das die Analyse auf ein Soll verweist, das in der Tatsache nicht aufgeht. Das heißt weder, dass wir sie verhüllen, noch dass die Tatsache für uns ein Neutrum ist, sondern nur dass sie vergänglich ist, um zum Gegenstand vergangener Erlebnisschichten zu werden, und damit projektiv, etwas anstoßend, einer historischen Betrachtung zugänglich ist und bleibt.
Das war, gelinde gesagt, nicht gerade Kants Stärke: die historische Betrachtung im Sinne einer bewussten Projektion. Daher merkte er nicht, dass er nur (seine) Wünsche und Hoffnungen projizierte, nicht auf Gott (damit machte er Schluss), aber auf etwas Gedachtes (im Innenleben), das schon deshalb real sein soll, weil man nicht umhin kommt, es zu denken oder innerlich vor sich hin zu murmeln (den KI); das mache die Hoffnung, dass in die Welt Glückseligkeit kommen werde, nicht trügerisch (zur puren Phantasie, zur unendlichen Sehnsucht), sondern real, d.h. in Bezug auf etwas Gedachtes subjektiv und moralisch geboten. Wir dürfen hoffen, mehr nicht, auf eine bessere Welt, die, wenn sie uns im Diesseits nicht beschieden sei, im Jenseits auf uns warten würde, vorausgesetzt, wir erweisen uns dieser Welt als würdig, indem wir ihr bis zur Pflichtversessenheit gehorchen, ein Gehorsam, der in letzter Instanz auf nichts verweist als auf diese ominöse innere Stimme (KI). Fast möchte man sagen, Kant fiel hinter die Autoren des Alte Testaments zurück. Sie erhofften sich eine neue Welt, das gelobte Land, das in ihren Augen, ganz und gar irdisch, keinesfalls Fiktion, bzw. nicht auf Sand gebaut war. Wie war so ein Denken möglich, ohne unmittelbar auf etwas Reales zu verweisen, denn es existierte von vornherein als Mythos in den Geschichten des Alten Testaments, aber als ein Mythos zum Anfassen, resp. einer, der satt machte, weil er irdische Begierden unablässig belebte, die noch nicht abgetrieben werden mussten, um, wie bei Kant, sich einer immer nur zu erhoffenden Glückseligkeit als würdig zu erweisen. Kurzum, die Hoffnung lebte, buchstäblich im Dreck der ägyptischen Versklavung, aber eben noch nicht im Konjunktiv.
C26.14.4 Exodus
Gott, Moses, Exodus, Hiob, Altes und Neues Testament; die Sache ist ernst. Immer schon gab es gefährdete Strukturen, die es zu schützen oder zu erneuern galt oder vollkommen neu geschaffen wurden, verbunden mit Gewalteinbrüchen. Darüber singt uns das Alte Testament ein Lied, ganz besonders im “Exodus”: dem Auszug der Juden aus Ägypten, den die Juden heute noch mit dem Passah-Fest feiern, das die Christen zum Osterfest umdeuteten, sozusagen als Aufbruch ins ewige Leben mit der Auferstehung Jesu, wiewohl der Exodus eigentlich eine Vertreibung war, ein erzwungener Aufbruch in eine neue Welt, der bis heute rückblickend, insbesondere von Juden, als glückliches Ereignis empfunden wird. Er bedurfte, solange er noch nicht real oder am Ziel war, einer Verheißung: das gelobte Land Kanaan, das in Wirklichkeit erobert und besetzt werden musste.
Die Eroberung wurde rückblickend mit positiven Gefühlen besetzt, bis hin zum Hochgefühl: So muss es gewesen sein, so war es gewesen, und das war gut so, so und nicht anders; “wahr” wie eine Tatsache und doch nichts als pure Vorstellung, Phantasie, Mythos, Märchen. Vor dem Exodus und der Eroberung des gelobten Landes entwickeln die die Autoren des Alten Testaments das, was werden Soll, irdische Erlösung, als gelebte Wirklichkeit. Wie und was sie dann wirklich gewesen war, als die Vorstellung wirklich wurde, ist eine andere Sache. Vorerst war das gelobte Land eine reale Kopfgeburt, die dem Herzen appliziert wurde, ohne dass dieses etwas an der Vorstellung zu ändern vermochte; sie war Verheißung auf etwas Gedachtes, verpackt in eine Geschichte, die das Alte Testament den Juden auf ihren geschundenen Leib schrieb, in einer Zeit, die immer nur war wie sie war für die unteren Klassen, die es nicht gab, aber werden sollte; eine Phantasie, die werden sollte? Unmöglich und doch möglich wiewohl immer nur das werden konnte, was war und nicht das, was eine Seele sich auszudenken vermochte.
Die Geschichten der Autoren des Alten Testaments standen der geschundenen jüdischen Seele aber zur Seite, handlungsorientierend, Energien freizusetzend, wenn man mit ihnen eine unbedingte Wahrheit verband, an der niemals gerührt werden durfen. Noch war das Seelengebäude, das Innenleben, festgefügt und invariant, das Innenleben kein Gegenstand, das sich gestalten ließ, auch wenn die Vorstellung noch Vorstellung blieb und nicht Realität wurde. Doch auch im Kontext festgefügter Vorstellungen liefen Gefühle, die sich ihnen auftrugen, immer Gefahr, sich zu Hochgefühlen zu verselbständigen; schon sie bedurften daher, um handlungsorientierend für eine große Menschenmenge sein zu können, einer gefühlskontrollierenden überirdischen Grundlegung: einer weiteren Vorstellung, die sich über die eigentliche Vorstellung legte, in der Lage, die irdische Verheißung als etwas “Reales” empfinden zu können. Das war die Erfindung eines überirdischen Gottes. Er musste die Verheißung befestigen und die Juden aus Ägypten herausführen, aber nur wenn sie an ihrer Vorstellungswelt nicht rührten und dem einen Gott absolut gehorchten. Gehorsam war ihnen nicht fremd; sie lebten in Knechtschaft und besaßen nichts; doch nun musste der Gehorsam “freiwillig” geschehen und mit dem Gefühl im Einklang stehen, damit werden konnte, was werden sollte. Gott versprach ihnen das gelobte Land, vorausgesetzt, sie huldigten und gehorchtem ihrem Gott. Man erzählte, ihm gehöre die Erde, einschließlich aller Völker, die auf ihr wandelten. Ein Gott, wie geschaffen, imperialen Allmachtsphantasien den Heiligenschein rationalen Handelns umzuhängen.
Vorerst, an der Schnittstelle zwischen Knechtschaft und Befreiung, also im Aufbruch hin zu einem neuen Leben, herrschte Egalität; absoluten Gehorsam schuldete man nur dem Allmächtigen, mit Abstrichen seinem Stellvertreter auf Erden, Moses, der als unmittelbarer Gesprächspartner Gottes die Verbindung zu seinem auserwählten Volk herstellte, eine Sache, die dem Innenleben auch von Außen appliziert wurde, denn sie war “wahr”. Und “wahr” war: Gott repräsentierte die Verheißung, das gelobte Land, wiewohl, aus heutiger Sicht, Gott, der alles befestigte, auch nur pure Fiktion war, die sich später, in der Realität, in und nach der Eroberung, anders ausnahm, als in der ursprünglichen (egalitären) Vorstellung. Es kommt eben immer alles anders als man denkt: Dem realen Leben im gelobten Land wurden Strukturen von Macht appliziert, die unbedingten Gehorsam verlangten, nunmehr auch gegenüber der neuen irdischen Ordnung, die sich freilich auf Gott berufen musste. Sie stand zwischen Gott und dem realen Leben der Menschen. Ähnlichkeiten zwischen alter und neuer Welt waren unverkennbar: Die Juden gehorchten Gott, indem sie der Ordnung gehorchten, denen, die diese Ordnung repräsentierten und in dieser Repräsentation in der Nachfolge und Abstammung zu Moses eine besondere Nähe zum Allmächtigen für sich in Anspruch nehmen durften, so wie man dem Pharao gehorchte, weil er, gottähnlich bis gottgleich, zumindest eine besondere Nähe zu den vielen verschiedenen Göttern der Natur besaß.
Freilich besaß die ägyptische Kultur noch eine recht ausdifferenzierte, hierarchisch wohl abgestimmte Götterwelt, während der Gott der Juden alles in sich auf einen Punkt verweinigte. Es war die Geburt eines Strukturfetischs, in der die (soziale) Struktur zwar nicht mehr, sich selbst relativierend, auf eine differenzierte Götterwelt verwies, wiewohl sie in dieser frühen Phase noch auf etwas außerhalb ihrer selbst zeigen musste: auf Gott, der die Existenz des gelobten Landes und damit die Ordnung, die sich in ihm ausbildete, legitimieren musste. Mit anderen Worten: die Struktur war noch nicht purer Selbstzweck wie heute; sie legitimierte sich nicht selbst; sie existierte nicht um ihrer selbst willen, sondern einzig und allein zur höheren Ehre eines einzigen Gottes, der daher noch mehr Gehorsam als jeder gottähnliche Pharao einfordern durfte. Dieser stand mit seinen Göttern unter dem Allmächtigen, nicht über ihm. Ja, die alten Götter gab es in Wirklichkeit gar nicht; an ihnen klebte zu viel Menschliches, dass jedes Sollen noch in ein problematisches Licht zu stellen vermochte, dazu angetan die herrschende Ordnung zu destabilisieren. Das durfte es nicht mehr geben. Dem schob Gott eine Riegel vor; das war wichtig, solange die Vorstellung noch nicht Realität geworden war. Also sprach er: Ich bin der Herr, Dein Gott. Du sollst keine anderen Goetter neben mir haben. Es gab nur eine Wahrheit und die musste festgefügt sein und war festgefügt wie eine Tatsache, auf dass werde, was noch nicht war.
Ein solcher Gehorsam, der ein einziger Gott einforderte, musste indes eingeübt werden; mit Zuckerbrot und Peitsche; geübt wurde auf dem vierzigjährigen Irrweg durch die Wüste, in der der (neue) Bund zwischen Gott und den Juden geschlossen wurde, der auf unbedingtem Gehorsam beruhte. Zugegeben, sie wichtigste Regel, Regel aller Regeln: du sollst gehorchen, wurde immer wieder verletzt (Tanz um das goldene Kalb), aber auch grundsätzlich verziehen, denn Gott brauchte die Juden, die das Vorbild für andere Völker abgeben mussten; und die Juden brauchten Gott, um ihre traumatischen Erfahrungen aus immer wiederkehrenden Schicksalsschlägen zu verarbeiten, indem man ihnen einen Sinn applizierte: Strafe Gottes für Ungehorsam. Damit geriet die Vernunft von allem Anfang an zu einer Sache des Gehorsams.
Später war es, mit Kant, die vielbeschworene Einsicht in die Notwendigkeit, der sich das Innenleben zu öffnen hatte, um sie freiwillig zu leben. Alles andere wäre selbstverschuldete Unmündigkeit, aus der die Kantische Vernunftkritik herausführen wollte. Das heißt, das Innenleben war als eigenständige Entität akzeptiert, aber nur, weil es das in die empirische Realität hinein produzierte, was den Vernunftprinzipien zufolge unvermeidlich war. Dem Innenleben wurde gleichsam etwas appliziert, eine Moral, die Teil des Innenlebens war und nach außen entsprechend der Vernunft wirken würde. Die Wahrheit wurde dem Inneleben nicht von außen appliziert; sie war selbst Teil des Innenlebens und wirke auf das Außen ein. So weit war das Alte Testament noch nicht. Seine Wahrheit war eine, die von außen dem Innenleben appliziert wurde. Das Innenleben war noch nicht als eigenständige, vernunftproduzierende Entität bekannt, geschweige denn akzeptiert.
Die Autoren des Alten Testaments applizierten Erklärungen (Vernunft) zweifellos in therapeutischer Absicht: Schicksalsschläge wurden als Strafe gedeutet, der man ausweichen konnte, wenn man gehorchte. So eroberte sich die Strafe einen anerkannten und unverzichtbaren Platz im sozialen Leben. Für Kant war sie ein Gebot der Vernunft. Er war Anhänger der Todesstrafe wie Goethe. So das Alte Testament. Wenn die Juden ihren Gott verrieten, bestrafte er sie mit einem Schicksalsschlag. Darauf beruft sich unsere Gesellschaft auch heute, wenn Hartz-IV-Empfänger gequält werden, damit sie ihren Arsch hochkriegen. Das Strafen ist den Menschen ein tiefers inneres Bedürfnis, das heute freilich keiner jenseitigen Legitimation oder Sinngebung bedarf, anders als früher, als der Prophet Jeremia die babylonische Katastrophe als Strafe Gottes interpretierte. Gott straft seine Kinder hart, sehr hart, aber er verzeiht auch immer wieder:
“ ‘Gebt Acht’, sagt der HERR. ‘Die Zeit kommt, da werde ich mit dem Volk von Israel und dem Volk von Juda einen neuen Bund schließen. Er wird nicht dem Bund gleichen, den ich mit ihren Vorfahren geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm und aus Ägypten herausführte. Diesen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihnen doch ein guter Herr gewesen war. Der neue Bund, den ich dann mit dem Volk Israel schließen will, wird völlig anders sein: Ich werde ihnen mein Gesetz nicht auf Steintafeln, sondern in Herz und Gewissen schreiben. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein’, sagt der HERR. ‘Niemand muß dann noch seinen Nachbarn belehren oder zu seinem Bruder sagen: Lerne den HERRN kennen! Denn alle werden dann wissen, wer ich bin, von den Geringsten bis zu den Vornehmsten. Das sage ich, der HERR. Ich will ihnen ihren Ungehorsam vergeben und nie mehr an ihre Schuld denken.’ ” (Jer,31, 31-34)
C26.14.1.1 Verzicht (Strafe) als Therapeutikum
Der Weg hin zu einem nachhaltig stabilen Bund war beschwerlich, lang und mit vielen Schicksalsschlägen (Strafen) verbunden, vor allem, gleich nach dem Aufbruch, mit Verzicht, der in der Wüste vierzig Jahre lang buchstäblich zelebriert wurde; er erzeugte auf dem direkten Wege Gefühlskontrolle, die im Interesse einer zukünftigen neuen Ordnung brutal von außen auferlegt werden musste, denn Gott hatte sich noch nicht im menschlichen Inneleben eingenistet; er war den Menschen noch nicht zur zweiten Haut geworden; er stand über und war zugleich Teil der Gesellschaft, nicht des Innenlebens. Aber von der Fähigkeit zur Gefühlskontrolle hingen Stärke und Stabilität des Bundes ab, der sich, vom Gefühl besetzt, später in die neue Ordnung ergießen sollte, damit das Zusammengehörigkeitsgefühl im Kontext von Herrschaft und Machtausübung hält. Menschen lassen sich am besten ausbeuten, wenn sie es vom Gefühl her selber wollen.
Auch heute werden, wenn schützende Strukturen in Gefahr geraten, Gefühle der Zusammengehörigkeit in der Fähigkeit zum Verzicht beschworen. Leistung wird ganz besonders bewundert, wenn sie im Schweiße des Verzichts stattfindet, freilich im Interesse einer Zukunft (Verheißung), die nie eintritt. Dafür sollen wir im Verzicht stolz sein. Wie damals die Juden, als auf ihrem vierzigjährigem Irrweg durch die Wüste, an dessem Ende es so etwas wie eine Belohnung geben sollte. Heute predigen Leute wie Arnulf Baring unermüdlich Verzicht als Voraussetzung für nationalen Zusammenhalt; das bloße Gefühl auf etwas, das nie eintritt, soll uns aus der Krise führen, auf einen Weg zu ökonomischer und sozialer Wiederauferstehung. Nur dass der Verzichtsprediger selbst auf nichts verzichten muss. Da fragt sich das schlichte Gemüt doch gleich, worauf Baring Gefühl für den nationalen Zusammenhalt basiert, wenn er keinen Verzicht übt? Verzicht ist offensichtlich nur für die “anderen” nötig. Von selbst machen sie nicht das “Richtige”, Baring schon; schließlich ist er der Erzieher, der für sich in Anspruch nimmt, nicht mehr erzogen werden zu müssen, und wir sind wie Kinder, denen einem Tracht Prügel nicht schaden wird. Das macht den Verzicht (die Strafe) in den Augen der Bürger zur puren Ideologie. Die einzigen, die das nicht spüren: ihre eigene Heuchelei, sind die, die unentwegt den Verzicht predigen. In der Wüste konnte der Verzicht nur deshalb den Bund begründen, weil alle verzichteten. Die Juden hatten ja nichts; sie kamen alle aus dem Dreck und sehnten sich gemeinsam nach dem gelobten Land. Das gemeinsame Gefühl akzeptiert keine Ungleichheiten im Dreck, bzw. im Kontext einer gefährdeten Struktur, die ihre Menschen nicht mehr schützt, bzw. nicht mehr ernährt. So lange die Menschen genug zu essen haben. In diesem Fall hebt das Gefühl ab und gerinnt zu einem Gefühl unendlicher Sehnsucht: Warten auf den Messias oder das jüngste Gericht als Ersatz für eine egalitäre Verheißung auf Erden.
Nach der Flucht aus Ägypten war die Wüste der ideale Ort, das Zusammengehörigkeitsgefühl einzuüben. Die Juden waren wie geschaffen dafür; sie lebten in Ägypten als Unberührbare in vollständiger Armut und Ausgrenzung. Sie hatten nichts zu verlieren. Man musste ihnen klar machen, dass jenseits des Drecks, in dem sie lebten, eine andere Welt möglich war, ganz und gar irdisch, für die fortan ein neuer Gott, den die Welt noch nie gesehen hatte, stehen sollte. An den musste die Juden aber erst einmal glauben können, um sich für IHN und mit IHM in eine neue Welt entführen zu lassen. Einen solchen Gott galt es überzeugend in Szene zu setzen, bis man sicher sein konnte, dass Vorstellung und Realität übereinstimmten. Dazu musste eine feste Verbindung zwischen Vorstellung, wie etwas anders werden soll, und Gott existieren. Im nachvollziebare Kurzschluss von Ist und Soll bietet bietet Gott, der das Soll repräsentiert, die Gewähr, dass der Aufbruch nicht im Niemandsland endete. Das himmlische Verprechen auf ein ewiges Leben gab es noch nicht. Vorerst musste das Gefühl abheben, ohne sich von der Erde zu lösen, zumal sich der neue Gott erst noch gegen die alten, an die Natur gebundenen Götter durchsetzen musste. Bis dahin musste das himmlische Versprechen warten, das heißt, so lange die Erinnerung an die alten Götter noch zu frisch, bzw. im dunklen Brunnen der Geschichte noch nicht tief genug versenkt war, um dann freilich als Erlebnisschicht der Vergangenheit weiterhin ein unberechenbares Dasein zu fristen, das immer mal wieder wachgeküsst werden kann. Noch heute wird der liebe Gott als Objekt phantastischer Sehnsüchte durch esoterische Schrullen aller Art ersetzt. Wozu den lieben Gott, wenn man gemeinsam Gabeln verbiegen kann?
Will man den neuen Gott überzeugend in Szene setzen, ist der erste Blick entscheidend. Ohne diesen droht vollständige Strukturlosigkeit an der Schnittstelle von einer alten in eine neue Welt. Dieser Gefahr musste etwas entgegengesetzt werden, das in der Lage war, einer misstrauischen Menschenmenge eine feste und überzeugende Struktur zu geben, die auf “etwas Reales” zeigt. Eine solche Struktur durfte es nicht nur in Gedanken, als etwas Gedachtes (Noumenon), geben, sondern als eine Macht, die alle bisherigen Vorstellungen sprengte, die über allen bisherigen Mächten stand, und sie musste real (wahr-nehmbar) sein. Wie ein Wort, das auf einen fest umrissenen Gegenstand (das da ist ein Stachelschwein) zeigt, musste die Verheißung, um zu überzeugen, auf etwas zeigen, das in Verbindung zum Allmächtigen stand, um an ihn wie an eine Tatsache glauben zu können, um sicher zu sein, dass der Aufbruch nicht im Niemandsland, sondern tatsächlich im gelobten Land endet.
C26.14.1.2 Die Entdeckung des “Nächsten”
Doch der “normale” Mensch lebt, anders als Philosophen, die nie ganz in dieser Welt leben, nicht von der beweißkräftigen (logischen) Gewissheit allein, dass eine Sache gelingen möge, wenn das Gefühl nicht sofort abheben kann. Für die geschundene und verwundete Seele der Juden schälte sich noch etwas Neues heraus, das sie ganz eng zusammenrücken ließ und zum gemeinsamen Handeln (nicht nur in der Welt phantastischer Logik) befähigte. Es war “die Entdeckung des Nächsten” und damit zum ersten mal die Frage: wie gehen wir miteinander um?, die zum ersten mal, wenn auch nur intuitiv, getrennt von einer zu verhandelnden Sache gestellt und beantwortet wurde. Für den Griechen existierte der nächste nur im Kontext einer zu verhandelnden Sache. Er sagte es sogar ausdrücklich: das menschliche Leben funktioniert umso besser, je mehr es sich an der Natur: den natürlichen Dingen dieser Erde, orientiert, während der “Nächste” der Juden einer zu verhandelnden Sache, die außerhalb des Begriffs des “Nächsten” angesiedelt ist, nicht bedurfte. Der Mensch wurde Selbstzweck, resp. verhandelbar, und zwar nicht im Kontext einer außer ihm existierenden Sache (der Begierde), die Menschen zwar verband, aber auch regelmäßig entzweite. Das kam einer geistigen Revolution, einer Umwertung aller Werte gleich, wo
“der Sklave, der Fremde, der Internierte und der Proletarier wieder in seine Menschlichkeit eingesetzt” wurde: “Die Tatsache, dass diese Umwälzung von der untersten sozialen Schicht ausging und (...) die verschiedensten Formen des Elends sprengte”, verleihte dem Exodus “seine große historische Bedeutung. Nicht Israel allein erlebte den Exodus , sondern mit ihm die ganze große Menschenmasse (Ex,12,33).” (NEA-MOS, 81)
Die Frage “Wie gehen wir miteinander um?” war solange nicht einer Bearbeitung zugänglich wie Menschen in festgefügten Strukturen, die ihnen Schutz gewähren, miteinander verkehren, so dass gute Gründe zu fragen, warum und ob Menschen legitim miteinander verkehren, nicht entstehen konnten. Mit anderen Worten: man war als Mensch definiert durch den Platz, der einem von der Gesellschaft zugewiesen wurde. Ihn zu verlassen bedrohte das Festgefügte und wurde mit entsprechenden Sanktionen belegt. Das änderte sich schlagartig, als der “Nächste” in die Welt kam. Dieser war für Menschen weder real noch als Begriff existent, solange sie sich um ihre Existenz keine Sorgen machen mussten.
Dem gegenüber waren die Juden nur aus einem Grund in der Lage, die Frage “Wie gehen wir miteinander um?” von den natürlichen Sachen des menschlichen Lebens zu isolieren, um sie überhaupt nur intuitiv stellen zu können, nämlich darum, weil sie keine “Sachen” besaßen, so dass sie sich auf sich selbst, als die einzig verfügbare Sache, zurückgeworfen sahen, die, zugegeben, keine Verhandlungssache war, aber sich als existente “Sache” von den Strukturen, wie sie die Ägypter lebten, dennoch absetzte; das Gefühl, vollständig außerhalb der herrschenden Struktur zu existieren, war weiß Gott kein Vergnügen. Die Juden hatten sich solch ein Leben nicht ausgesucht. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als die Nähe des “Nächsten” zu suchen, zu finden und mehr schlecht als recht zu leben und, wenn nicht vorhanden, fürchterlich zu leiden, noch heute.Das machte sie für einen neuen Gott hochgradig empfänglich, zumal dieser das Gefühl der Nähe garantierte, indem er es gleichsam simulierte. Gott geriet zum universalen Objektbezug des Gefühls im Begriff des Nächsten. Gott brauchte den Nächsten und der Nächste brauchte Gott. In diesem wechselseitigen Bezug war es möglich, dass der neue Gott im Leben der Juden haften blieb und sich durchsetzte..
Ohne Objektbezug wird “Nähe” zum Problem. Deshalb kann es der Sexverker allein nicht sein, der nachhaltig verbindet, da er Nähe voraussetzt, die freilich immer wieder entzogen wird in der Verschiebung des Gefühls im Objektbezug. Wer viel Nähe braucht, ist umso eifersüchtiger, wenn sie von Zeit zu Zeit in der Verschiebung entzogen wird. Daher erträgt das sogenannte “normale Leben” nur so viel Nähe (unter den Menschen) wie nötig und verlangt mitnichten so viel Nähe wie möglich. Die Juden brauchten sie: soviel Nähe wie möglich, weil sie nichts hatten, außer ihre Existenz, das sie verband. Ihre Eifersucht projizierten sie auf Gott. Dieser duldete keine anderen Götter neben sich. Er begründete die (menschliche) Existenz als Fetisch. Geradezu traumatisch und traumatisierend, nicht zu ertragen.
Ein solcher Fetisch wurde im Alten Testament von den Propheten beschworen, zum Mythos stilisiert: zur Projektionsfläche, auf der sich die Gefühle wie auf etwas Jenseitiges und Unerreichbares auftragen konnten, um im Diesseits ertragbar und lebbar zu sein. Mit anderen Worten: der Nächste existierte und wurde geliebt durch Gott hindurch. So wird verständlich, dass er erst im Dreck quasi-real in die Welt kam, um später, in einer neuen Ordnung, als (innere) Erlebnisschicht der Vergangenheit ein untergründiges Dasein zu führen, das durch die alltäglichen Dinge der neuen Ordnung von Zeit zu Zeit wachgeküsst werden kann, ohne die Dinge (der neuen Ordnung) freilich nachhaltig zu berühren und zu ändern. Denn die Projektion ist für sich genommen pure Phantasie, die real umso weniger bewirkt, je nachhaltiger sich die Projektionfläche von den alltäglichen Gegenständen, die die Projektion auslösen, herauslöst, um sich von ihnen zu verselbständigen. Dann sind es nicht die alltäglichen Gegenstände, dazu auch konkrete Menschen gehören, die das Leben lebenswert machen, sondern abgehobene Phantasieprodukte, resp. die Repräsentation und nicht das Repräsentierte. In jedem Fall aber braucht das Gefühl etwas, auf das es verweist, andernfalls es auf sich selbst zeigen müsste, um in permanenten Hochgefühlen unlebbar zu werden, bzw., die andere Seite der Medaille, in schlimmsten Depressionen zu verglühen. Kurzum, der Objektbezug des Gefühls muss gewahrt bleiben und wiederhergestellt werden, sobald er in Gefahr gerät.
Freilich ist schon der Nächste, da er durch Gott hindurch sich ausbildet, Projektionsfläche für unendliche Sehnsüchte, die im Diesseits ihre Erfüllung nicht finden, insofern wie der liebe Gott Opium für die geschundene Seele. Der Nächste gab das ursprünglichere Modell einer Projektionsfläche ab, die Gott als omnipotente Projektionsfläche (Repräsentation) nicht mehr braucht, bzw. abstößt, da dieser und nicht der Nächste die neue Ordnung repräsentiert. Im Dreck braucht Gott den Nächsten; in der neuen Ordnung nicht mehr. Da kommt ihm der Nächste nur immer ungefragt in die Quere, sobald dieser als Erlebnisschicht durch die Dinge eben dieser neuen Ordnung wachgeküsst wird. Das kann geschehen, nachdem sich der Nächste als Erlebnisschicht der Vergangenheit im Inneren des Menschen eingenistet hat; im Sinne einer universalen Instanz irdischer Egalität, dies nicht in Absetzung von und gegen Gott, sondern neben ihm, da dieser sich im Alten und Neuen Testament als universale Instanz noch nicht im Inneren des Menschen eingenistet hatte. Daher immer wieder derselbe Quatsch, Jesus sei ein Revolutionär gegen die herrschende Ordnung. Fest steht aber auch, mit dem Begriff des Nächsten wurden die mentalen und begrifflichen Voraussetzungen für die Ausbildung einer Innen-Außen-Beziehung gelegt, in der das Innenleben nicht belanglos neben einem Außen, in das jenes involviert, existiert, und funktioniert, da es auf etwas zeigt, was mit ihm nicht identisch ist, wie bei Narziss, der sich nach sich selbst verzehrt und dabei zugrunde geht. Das heißt aber noch lange nicht, dass es die besagte Belanglosigkeit nicht geben kann. Noch im sogeannten kritischen Rationalismus eines Poppers stehen stehen Innen und Außen absolut belanglos nebeneinander. Für Popper war die Subjekt-Objekt-Beziehung kein Problem mehr. Philosophisch angeblich gelöst.
C26.14.3 Die Macht der Gewohnheit
Im Exodus blieb die Verheißung auf das gelobte Land als “realitätswirksame” Kopfgeburt primär, während der Nächste zur Erlebnisschicht der Vergangenheit herabsackte, die die Gegenwart zwar sehnsüchtig befärbte, ohne sie freilich zu prägen. Dem gegenüber war Verheißung des gelobten Landes eine Kopfgeburt, im Sinne einer Vorstellung in der Vorstellung, in paralogistischer Verdopplung des Begriffs: In der Perspektive des Alten Testaments zeigt der Begriff der Verheißung (Vorstellung) auf den weiteren und eigentlichen Begriff, die Vorstellung von “Gott”, der die Verheißung im Sinne eines Tatsachenbezugs befestigt und wie etwas Reales erscheinen lässt. Ein Trugschluss, wie Kant meinte, der, um als wahr gelten zu können, eines untrüglichen Zeichen, eines Wunders, bedurfte, um ihn wie eine reale Tatsache zu befestigen.
Aus den Geschichten des Alten Testaments lassen sich gedankliche Operartionen herauslesen, die eine Phantasie oder einen Traum in etwas Reales und Festgefügtes transformiert, bis die Gewohnheit gedankliche Operationen überflüssig macht, weil die Gewohnheit das, was vormals pure Phantasie war, zur zweiten Haut des Menschen werden lässt. Es herrscht die Gewohnheit: Wir alle sind z.B. überzeugt, in einer Demokratie zu leben. Und warum? Weil wir jeden Tag hören, dass wir in einer Demokratie und in der Freiheit leben, und wie schön es ist, seine Meinung zu äußern. Meinungsfreiheit ist vielleicht notwendige Bedingung, aber ist sie auch hinreichende Bedingung? Möglicherweise ist die Meinungsfreiheit für sich selbst genommen völlig belanglos. Diese Frage stellt kein Mensch, zumal es viele Länder gibt, in denen die Menschen wegen ihrer Meinung eingesperrt, ja umgebracht werden. Noch Fragen?
Allerdings. Die Steinschläge gegen die Gewissheit, dass wir in der Freiheit leben, kommen näher und überzeugen immer mehr Menschen immer weniger. Sie spüren zum einen, dass ihre Meinung völlig belanglos sind, und zum anderen, dass Freiheit in einem System um sich greifender Armut immer nur die “Freiheit der Besitzenden” ist, die die Armut als Bedrohung empfinden. Deshalb ist die herrschende Meinung bemüht, den Freiheitsbegriff von den materiellen Lebensbedingungen der Menschen abzukoppeln. Gerd Habermann vertritt in Welt-Online die Auffassung,
dass es ein seltsames Reicht sei, mit Hartz-IV auf Kosten anderer zu leben. Menschenwürde habe nichts mit den materiellen Lebensniveau zu tun, sondern bedeute “zunächst nur die objektive Sonderstellung des Menschen gegenüber den ‘vernunftlosen’ Tieren und der unbelebten Welt, weil der Mensch überlegt handeln und seinem Leben Wert und Sinn verleihen kann.”
Das wurde an Ort und Stelle von einem Bürger wie folgt kommentiert:
30.10.2010, 18:04 Uhr (683)(106) Anton Chigurh sagt:
“Wer angekettete Hofhunde mit bedürftigen Menschen vergleicht, hat schon ein sehr seltsames Gesellschaftsverständnis. Aber genau das ist es: für die (oft auf Kosten Anderer) ‘Wohlversorgten’ sind die Bedürftigen in dieser Gesellschaft eine Bedrohung.
Systematische Volksverblödung und Ellenbogendenken von frühester Kindheit an hat aus der ehemaligen Solidargesellschaft einen Haufen egozentrischer Rücksichtsloser gemacht, die dann, von den ‘Eliten’ rekrutiert, das Volk gegeneinander aufhetzen. Arm gegen ärmer, reich gegen arm – und alle gegen Migranten. Das ekelhafte Geschmiere dieses Systemschreiberlings Habermann ist ein perfektes Beispiel dafür, und er macht es unbewußt ja selbst. Mit diesem sozialdarwinistischen Dreck aus seiner Feder ist es ‘Ein seltsames Recht, auf Kosten Anderer zu leben’ – Pfui Teufel!”
Fühlen sich Menschen in ihrer Existenz bedroht, brechen alte Gewissheiten weg. Dann wird immer klarer: der Demokratiebegriff zeigt allein deshalb auf etwas Reales oder “Wahres”, weil man uns täglich impft. Gedankliche Operationen, wie sie noch in den alten Erzählungen des Alten Testaments herausgelesen werden können, sind weder nötig, noch gefragt. Der Begriff muss sich nicht verdoppeln, um auf wundersame Weise befestigt zu werden; er existiert aus sich heraus in doppelter Ausführung, allein durch Gehirnwäsche (Erfahrung), die den Kopf ausschaltet, um das Verinnerlichte, mithin das Innenleben auf seine Substanz oder Realitätstüchtigkeit zu überprüfen. Mit anderen Worten, das, was schon im Alte Testament implizit angelegt war, die begrifflichen Voraussetzungen einer Innen-Außen-Beziehung und damit das, was wir heute Projektion nennen, wird durch die herrschenden politischen Strukturen buchstäblich wieder abgetrieben. Wir sollen nicht nach-denken, sondern die Schnauze halten, wenn das Denken für die Machtausübung zur Bedrohung wird.
Solange die sich die Politik real noch nicht wirklich bedroht fühlt, redet sie irgendein Unsinn am Bürger vorbei, ohne dass eine Verbindung zum Bürger gar nicht (mehr) existiert, und ohne die geringste Vorstellung, dass der Bürger dieses Strukturdefizit als Angriff auf seine Existenz empfinden muss, zumal in einer Zeit, in der sich die Schlinge sozialer Not immer fester um seinen Hals zieht. Nicht dass der Bürger ohne Not auf Krawall aus wäre. Er würde die Politik viel lieber meiden und würde ihr sogar alles glauben, egal, was sie anstellt, sogar Stuttgart-21 wäre kein Problem. Doch der Politiker drängt sich dem Bürger auf, wie um sich selbst zu beweisen, dass sie ihm gegenüber im Recht ist; wie auch nicht?, denn der Politiker repräsentiert nun mal Strukturen, denen sich der Bürger nicht entziehen kann, weil sie seine Privat-, ja Intimssphäre aktiv berühren; er muss sich äußern, selbst wenn er es im Grunde seines gutmütigen und wohlwollenden Herzens gar nicht wollte. Die Kluft zwischen Politik und Bürger kann mittlerweile nicht mehr geschlossen werden. Das sei anhand eines Beispiels illustriert, in dem es um etwas für den Bürger völlig Belangloses geht, das ihn nicht die Spur berührt, in dem
“der Bundesfinanzminister und frühere CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble (...) die Union mit Blick auf die schlechten Umfragewerte vor einem ideologischen Rückfall in die Adenauer-Zeit gewarnt” hat: Wir leben nicht mehr in den 50er-Jahren. Wer das bestreitet und fordert, die Union müsse zurück zu konservativen Werten, der hat nicht begriffen, wie Politik funktioniert.” (WOL-003),
so Schäuble in Welt-Online. Der Bürger hat schon das richtige Gespür, wie Politik funktioniert. Schäuble lebt ganz und gar von und für die Strukturen, ohne sie zu problematisieren. Dadurch würde er den Bürger, der unter den Strukturen leidet, ein Stück weit zu entlasten; mithin eine Verbindung zu ihm herstellen. Weit gefehlt: die Strukturen existieren alternativlos und festgefügt, also muss es irgendein Unsinn geben der sich verlautbaren lässt, ohne die herrschende Strukturen zu berühren. Das spürt der Bürger sehr wohl. Das kommt noch recht wohlwollend, freilich ironisch, in der folgenden Stellungnahme zum Ausdruck:
24.10.2010, 09:38 Uhr (216)(3) Peligro sagt:
“Ich verstehe ihn [Schäuble] vollkommen, wenn man das CDU/CSU Programm aus dieser [Adenauer-] Zeit liest: das kann er nicht wollen. Beispiel: ‘Jeder Mensch hat ein natürliches Recht auf Arbeit. Es muss möglichst durch eine auf Vollbeschäftigung abzielende Wirtschaftspolitik verwirklicht werden. Die Politik der Vollbeschäftigung darf jedoch nicht dazu führen, dass sie unter dem Deckmantel eines proklamierten ‘Rechts auf Arbeit’ sich in eine ‘Pflicht zur Arbeit’ verwandelt. Der Lohn muss der Arbeitsleistung entsprechen und soll nicht nur für eine angemessene Lebensführung des Arbeitnehmers, zu der auch die Teilnahme am Kulturleben gehört, ausreichen, sondern auch die Gründung und Erhaltung einer Familie sichern. Der Ertrag einer wirtschaftlichen Unternehmung ist das Ergebnis der Zusammenarbeit von Arbeit, Kapital und Unternehmensleistung. Die Arbeitnehmer haben daher Anspruch auf einen gerechten Anteil am Ertrag des Unternehmens’.” (In Klammern: 216 Leser, die dem Kommentar zustimmen, 3 Leser, die ihm nicht zustimmen)
Hier existieren zwei Welten belanglos neben- und gegeneinander, ohne Chance, sich zu berühren. Strukturlos, ohne Verbindung, auf die Schäuble glaubt – kraft seiner Existenz als Minister – einen sozusagen naturgegebenen Anspruch zu haben. Nur dass der Kaiser schon lange tot ist. Dennoch, Strukturlosigkeiten ist etwas, was der Bürger im politischen Raum am allerwenigsten verträgt. Er kann sie sich buchstäblich nicht leisten, denn die Politik es ist, die für soziale und ökonomische Steuerungsprozesse verantwortlich zeichnet und diese Verantwortung auch wahrnehmen muss. Das heißt, politische Beziehungen zwischen Bürger und Politik lassen sich nicht problemlos auflösen wie wir es bei privaten Beziehungen jeden Tag erleben. Dort wird Kommunikation verweigert ohne große Folgen für uns alle. Dagegen hat der Bürger im politischen Raum einen Anspruch auf Kommunikation, den die Politik von oben herab verweigert, nicht zuletzt mit Hilfe von Beiträgen, die immer mehr Bürger immer weniger berühren, bzw. mit ihrer Existenz immer weniger zu tun haben, so in der Art: wir müssen Sozialabbau betreiben, um den Sozialstaat zu sichern. Das versteht kein Mensch, vor allem kein Hartz-IV-Empfänger oder Bürger, der um seine Arbeit fürchten muss. Oder man redet von Intergration und lässt zugleich Schulen und Universitäten verrotten. Dort ist das Niveau mittlerweile unterirdisch.
Um es philosophisch zu formulieren: den Beiträgen der Poltik ist eine Logik immanent, die lebendige Strukturen suggeriert, indem sie mit viel Pathos Verbindungen (zwischen Bürger und Politik) aus der Feststellung von Tatsachen postuliert, z.B. wenn bedeutungsschwanger gesagt wird, der Mensch sei frei, weil er über dem Tier stehe; oder er dürfe seine Meinung “frei” äußern, also sei er “frei”, also leben wir in einer Demokratie. Das wäre für die Autoren des Alten Testaments nicht genug, denn sie postulierten eine neue Ordnung, ein Soll, das über die Feststellung einer (irdischen) Tatsache (Ist) hinaus weist, z.B. ein Wunder, um Gott und seine Verheißung wahr sein zu lassen wie eine Tatsache, ohne eine solche zu sein. Heute postuliert man Tatsachen ohne jede Metaphysik. An die bloße Tatsache zu glauben ist aber der letzte wiewohl dümmste Aberglaube aller bisherigen Geschichte.
weiter:
C26-C14-01 als PDF-Dokument (im Verzeichnis “Bürgerbriefe/WIR”)
C26.13.3.4 Gefühl unter Interpretationszwang
C26.13.4 Descartes/Pascal und Kant
Es begann alles mit Jesus und dem Schwert, das er in die Menschen und ihre Beziehungen trieb, um diese ihre irdische Existenz durch ein fest umrissenes, wohldefiniertes (imaginatives) Innenleben zu ersetzen, das einen Interpretationsspielraum des Subjekt in Bezug auf sein reales Innenleben nicht zuließ. Dem Subjekt wurde ein Innenleben appliziert, das himmlisch war oder gar nicht, gut oder böse, zumindest nicht irdisch oder familiär. Mit dem Christentum kam die außerirdische und außersubjektive Vernunft in Symbiose mit dem göttlichen Jesus, dem Guten schlechtin, ins Spiel, als Wortkonstrukt: angedeutet mit dem ersten Satz aus dem Johannes-Evangelium: im Anfang war das Wort; der Logos; die Vernunft; das Gute. Das Wort war Programm, das die Welt erschuf und steuerte; sie war im Kern gut und vernünftig; sie hatte nur einen Schönheitsfehler: den Menschen, der gut oder böse, im Zweifel böse war. Das Innenleben des Subjekt geriet unter Verdacht, wenn es sich nicht am Außersubjektiven, der göttlichen Vernunft, orientierte. Bis in die neuere Zeit hinein orientierte sich das Subjekt (imaginativ) an universalen Strukturen (Gott), an seinem weltschöpfenden Wort (Logos, Vernunft), wobei die einen: nichtsahnende, also unvernünftige Untertanen mit ihrem unordentlichen Innenleben, dem gottgegebenen Wort zu gehorchen hatten, während die anderen, Stellvertreter Gottes auf Erden, für die Untertanen das göttliche Wort reflektierten und regelmäßig gegen ihre nichtsahnenden Untertanen auslegten; die hatten wie Hiob keine Chance als Subjekte mit einem Innenleben wahrgenommen zu werden, das sie aus eigener Kraft gestalteten. Sie hatte sich ausschließlich an etwas außerhalb ihrer eigenen Existenz Angesiedeltes zu orientieren, das die professionellen Gottesanbeter repräsentierten, an einem überstrukturellen Maß, am Auge Gottes, das es real und objektiv gab und daher in der Lage war, alles Irdische zu verobjektivieren, sich als Konstrukt zu schieben zwischen Gefühl und Gegenstand. Derart bildeten Körper, Gott und Gefühl eine Einheit in der Vernunft, die sich als Konstrukt zugleich zwischen Gefühl und Körper drängte, um das Gefühl (Innenleben) zu kontrollieren. Eine Absurdität. Doch wie sollte sich Gott nicht im Bild verdoppeln, das Menschen sich von ihm machten? Das hieße, die Existenz Gottes leugnen.
Noch einmal: Gott war symbolisch (Gott) und real (König, Kaiser, Papst); logisch (unkörperlich) und körperlich zugleich; zeitlos, himmlisch, irdisch, zumal als weltschöpfender Geist, als ungezeugte Ursache, als logische Entität, von der alle irdisch-realen Strukturen abhingen, die daher einer Verbindung zu Gott bedurften in Gestalt von Kaisern und Päpsten, den Stellvertretern Gottes auf Erden. Aber das alles nur, weil die Menschen in festgefügten irdischen Strukturen dachten und lebten, an denen sich symbolische Strukturen daher zeitlos und universal anlehnen konnten. Das Sein: das Festgefügte, bestimmte das Bewusstsein: das Variable. In diesem Sinne war der Geist oder das Bewusstsein objektiv gegeben durch das, was ihn (es) in immer gleicher Weise fütterte. Bis der Geist dann in Hegel zur alles verobjektivierenden Entität im Weltgeist avancierte, erste und letzte Ursache in einem, zeitlos. Nunmehr bedurften die Untertanen erst recht der Aufklärung aus berufenem Munde, um der Verheißung göttlicher Vernunft: des Weltgeistes, zuteil werden zu können. Man sage nicht, dass irgend jemand Hegels Phänomenologie gelesen und verstanden habe. Nein, die Wahrheit wurde und wird den Menschen bis heute von oben herab zuteil, mit Hilfe weiser Menschen, die freilich auch nicht besonders durchblicken. Und überhaupt: hieße Hegel zu verstehen nicht, um mit Kierkegaard zu sprechen, Gott mit der Erde gemein und lästerlich machen?
Gott war das, was für Aristoteles der “unbewegter Beweger” als absolute Ursache und Maß jeder nur denkbaren Bewegung, also aller Dinge, war. Analog dazu repräsentierte Gott das absolute Maß, den unbewegten Beweger, um den sich alles bewegte und der alles bewegte; ein Maß, an dem alles Bewegliche zu messen war. Gott war Maß (absoluter Geist) und Messendes (Körper) zugleich; eine Form, die den Körper gebiert, fest an das Fleisch gebunden. Wer soll das begreifen? Ganz einfach: der intim Eingeweihte, der hohe geistliche Würdenträger, der Papst, Luther und alle Fundamentalisten dieser Welt. Sie alle hatten und haben bis heute die Aufgabe, Gott für “ihre” Untertanen verstehbar zu machen. Verstehbar? Nein! Zu erklären. Verstehen und Erklären bedeutet aus dem Munde eines Fundamentalisten ein und dasselbe. Dieser versteht sich als Interpretierender nicht als Teil der Interpretation. Sein Innenleben ist Tabu; der Analyse nicht zugänglich. Das heißt zugleich, das Innenleben ist festgefügt: himmlich, wie Jesus es vorgab, oder gar nicht, entweder gut oder böse. Es ist nicht etwas, das sich gestalten lässt. Obwohl heute der Forschende selbst Gegenstand der Forschung sein soll; so zumindest die (tiefen-?)hermeneutische Programmaussage. Was die Wirklichkeit hergibt, steht auf einem anderen Blatt. Dennoch, auch das Programmvorhaben wäre damals Gotteslästerung. Denn Gott sprach: ich bin der, der ich bin.
Mehr noch: Gott braucht keine Ursache, weder außerhalb noch innerhalb seiner selbst. Deshalb stand so mancher geistliche Würdenträger den Gottesbeweisen mit Argwohn gegenüber, da sie Gott aus dem menschlichen Verstand und damit aus der menschlichen Existenz ableiteten, das Höhere aus dem Niederen. Eine Ketzerei, die Gott gemein macht. Das Niedere sei nicht in der Lage, das Höhere zu erkennen, allenfalls zu erfühlen, aber nur durch den intim eingeweihten geistlichen Würdenträger, seine betenden Hände, sein Anlitz nach oben zur Sonne des Allmächtigen geneigt. Die der göttlichen Vernunft untergeordnete niedere menschliche Vernunft maße sich hier etwas an: so etwas wie göttliche Vernunft zu erkennen. Ein Unding. Der Gottesbeweis wehrte sich nach Kräften, wenn auch nicht ganz ohne Scheinheiligkeit, gegen diesen Verdacht. In Wirklichkeit wolle er Gott nur preisen; die Menschen von jedem Zweifel im Hinblick auf seine Existenz erlösen. Dem Gottesbeweis sei überhaupt nicht daran gelegen, das Subjekt aus der vollständigen Abhängigkeit von Gott zu befreien, wie das später Kant in seiner Vernunftkritik versuchte: den Mneschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien.
Doch vorerst war man noch weit entfernt, so etwas zu fordern. Noch galt es die Gottesbeweise, die Kant später nicht als Ketzerei, sondern nur als dummes Zeug durchgehen ließ, als Ketzerei zu entlarven. Gott beweisen zu wollen, so der Argwohn, sei der erste Schritt, ihn abzuschaffen. Man wisse doch, dass der menschliche Verstand irren könne? Schließlich sei irren menschlich. Damit wäre die Existenz Gottes wiederum infrage gestellt und zwar noch viel gründlicher als zuvor? In der Tat. Die Anbindung von Gott an die menschliche Vernunft war der erste Schritt hin zu einer Verschiebung des Objektiven in die menschliche Vernunft hinein und damit hin zu mehr Subjektivierung. Gott als die Inkarnation der Wahrheit und des Objektiven machte sich auf den Weg ins menschliche Innenleben; über die Brücke der Vernunft, die ja noch nicht unumstritten als etwas galt, was dem menschlichen Innenleben genuin anhaftete. Noch war die Vernunft etwas, was von Gott in die Menschen hineingebracht werden musste, wenn auch mit Hilfe berufenen Münder, die Gott ganz nahe standen. Es fand eine Verschiebung statt: das Objektive (Gott) geriet von nun an immer mehr zum Teil des menschlichen Innenlebens, in Gestalt der Vernunft, bevor es es schließlich zu einer Sache des Innenlebens wurde, die ein verobjektivierendes Außen in Gestalt von Gott nicht mehr brauchte, um über richtig oder falsch zu befinden. Die reine (praktische) Vernunft löste sich sich von Gott; sie geriet zur genuinen Eigenschaft der menschlichen Natur, mithin des menschlichen Innenlebens. Das Innenleben wurde zu einer Sache der Vernunft, indem Gott zu einer Sache des Glaubens herabwürdigt wurde. So etwas nannte man auch Subjektivierung (des außersubjektiven Objektiven). Dennoch hatte dies noch nichts mit einer Emanzipation des Subjekts zu tun. Es leidet bis heute unter seiner faktischen Nicht-Existenz. Man feiert das Subjekt, ohne sich ernsthaft für das Subjekt zu interessieren, weil ihm bis heute einklagbare Grundrechte vorenthalten bleiben.
Dennoch ist der Weg hin zu mehr Subjektivierung eine wichtige Voraussetzung, um das Subjekt irgendwann einmal ernst nehmen zu können: René Descartes (1596-1650) war der erste, der das menschliche Innenleben mit der Vernunft (in und durch Gott hindurch) verband. Wobei die Vernunft die Brücke zu Gott war und das Innenleben gleichsam abhängig von der Vernunft und damit noch als von Gott abhängig gedacht wurde. Es war noch Gegenstand göttlicher Verobjektivierung. Es war nicht etwas, das sich unabhängig von der Vernunft (Gottes) gestalten ließ, sozusagen unmittelbar von Mensch zu Mensch. Dem Intersubjektiven kam noch keine von Gott und der Vernunft unabhängige Bedeutung zu. Dennoch bedeutete dies einen ersten Schritt hin zur Verselbständigung des Subjekts, seiner Emanzipation von Gott. Der Bote mit Nachricht, dass Gott tot ist, machte sich nun auf den Weg. Er ist bis heute unterwegs. Er hat die Herzen der Menschen noch nicht erreicht. Damals stand Gott noch festgefügt über allen Menschen, aber das menschlichen Innenleben begann, sich von Gott zu lösen, unmerklich.
Einige sehr fromme Menschen rochen den Braten, sie spürten, dass da ein Bote mit der Nachricht von Gottes Tod losgeschickt worden war; sie versuchten, wenn auch vergeblich, den Boten zu stoppen, so der berühmte Mathematiker und Naturwissenschaftler Blaise Pascale (1623-1662); er war mit dieser ersten Herabwürdigung Gottes nicht einverstanden. Gott sei überhaupt nicht erkennbar! Pascal postulierte eine unendliche Ferne zwischen Gott und Mensch. Gott sei daher nicht etwas, was dem Mensch über die Gewissheiten der menschlichen Vernunft zukomme, das hieße ihn gemein machen; vielmehr sei Gott unergründlich: eine dem menschlichen Leben innewohnende Paradoxie. Damit nahm er Kierkegaard vorweg. Obwohl Mathematiker und Naturwissenschaftler, war Pascal der große Gegenspieler des neuzeitlichen Rationalismus (Vernunftglaubens) und Skeptiker eines mit ihm aufkommenden naturwissenschaftlichen Fortschrittsoptimismus’.
Dabei war auch Descartes ein tief gläubiger Mensch. Es drängte sich für ihn freilich ein Problem auf: das Denken (Vernunft) und mit ihm die Evidenz der (körperlich wahrnehmbaren) Existenz (“Ich bin”), in der Lage, sich ihrer dadurch zu versichern, dass sie, die Existenz, denkt (Res cogitans = denkendes Ding): ich denke, also bin ich; zwar nicht unabhängig von Gott (das wäre eine offene Revolte gegen Gott), doch in der Lage, sich ihrer selbst, ohne fremde Hilfe, auch ohne Gottes Hilfe, zu versichern, ein Satz, der durch seine Evidenz, resp. eine Wahrheit ohne weiteres Zutun bestach, vor allem ohne göttliches Zutun, und dennoch notwendig und richtig, objektiv und verobjektivierend zugleich, nicht gottähnlich, um Gottes Willen, vielmehr ohne Gott, ohne seine Hilfe; Gott blieb unangetastet als erste und letzte Ursache alles Irdischen. Das war die Geburt der Tatsachenevidenz (Tatsachen-Fetisch anstatt Gott-Fetisch); der menschliche Verstand vergewisserte sich der Tatsache unmittelbar, ohne dass Gott der Tatsache Beine machen musste. Die Tatsache besaß ihren eigenen inneren Grund; sie brauchte keinen Grund außerhalb ihrer selbst, um zu existieren; sie selbst war Grund genug, um als existent akzeptiert zu werden. Die Tatsache (der Mensch) existierte um ihrer selbst Willen, zwar nicht unabhängig von Gott (als ursprünglicher Schöpfer), doch erst einmal geschaffen, war sie in der Lage, ganz ohne Gott zu ticken; so wie eine Uhr funktioniert unabhängig von ihrem Erbauer, nachdem sie erschaffen worden ist. Gott blieb also einstweilen erste und letzte Ursache aller Dinge: Gott, Innen (Vernunft) und Außen (ausgedehnte Materie) galten weiterhin als unauflösliche Einheit, in der Gott die erste Geige spielte, ohne sich freilich in die Welt einzumischen, die der Verstand und seine im innewohnede Vernunft in seine Einzelteile zu zerlegen und zu denken vermochte. Auch Gott wurde de facto, sozusagen methodisch, aus dem Denken abgeleitet, evident aus dem Kausalitätsprinzip, dem Vernunftprinzip schlechthin: alles hat seine Ursache; also muss es auch eine erste Ursache in Gott geben.
Für Kant (1724-1804) war das transzendentale “Ich denke” nicht objektivierbar; ihm komme das (Erfahrungs-, bzw. Evidenz-) Prädikat “Ich bin” (aus dem Denken heraus) nicht zu. Denn das “Ich denke” sei nur “die Bedingung der Möglichkeit aller Objektivität”, so Höffe (HOO-IKA, 139). Ob Kant-Experte Höffe versteht, was ihm hier so unvermittelt, ohne weitere Erklärung, aus der Feder spritzt?, wie bestellt, abgeschrieben und nicht abgeholt? Ich würde den Satz als einen weiteren Schritt hin zu mehr Versubjektivierung (der außersubjektiven Objektivität) verstehen und vielleicht wie folgt ergänzen: das Denken (die Vernunft) verbürgt Kant zufolge keine Objektivität im Sinne von (Erfahrungs-)Evidenz, wie sie Descartes noch vorschwebte, der die Welt als von Gott geschaffene perfekte, immer gleich funktionierende Maschine dachte, als der menschlichen Vernunft und damit auch der menschlichen Erfahrung unmittelbar zugänglich. Das sei nicht möglich, so Kant. Die Dinge sind nur über die menschliche Vernunft dem Menschen gegeben und zugänglich, und das heißt, sie sind nicht unmittelbar über die bloße Erfahrung als solche, so wie sie wirklich sind, dem Menschen zugänglich. Zwischen die Sinne, mit denen der Mensch die Welt wahrnimmt, und die Welt, schiebe sich die menschliche Vernunft, um die Dinge der Welt so wahrzunehmen, wie es der menschliche Verstand apriori) vorgibt. Kurzum: die Objektivität ist Vernunftkonstrukt. Die Objektivität existiert nicht als solche. Sondern nur durch das Auge der Vernunft hindurch. Die Vernunft macht aus den Dingen dieser Welt nicht das, was sie in Wirklichkeit sind (für Gott oder für sich selbst). Das Ding an sich existiere für die menschliche Vernunft nicht, schon gar nicht evident, aus der Gefühlserfahrung (seiner selbst) heraus, wie Descartes noch dachte.
Kant hat in einem weiteren Schritt das menschliche Denken aus göttlicher Abhängigkeit gelöst, denn die Dinge auf dieser Welt existieren als wahrnehmbare Entität, für Gott anders als für die Menschen. Das menschliche Auge und das Auge Gottes haben nichts miteinander gemein. Wir wissen nichts über Gott; wir können nur an ihn glauben. Die Dinge haben aber auch für Kant noch nicht ihre je eigene Sicht auf sich selbst, auch wenn der Mensch (als Ding) sein Innenleben zu gestallten vermag, aber nur als entweder ein gutes (moralisches) Innenleben nach Maßgabe der in ihm waltenden (praktischen) Vernunft, oder das Innenleben ist böse gestaltet, weil es nichts von einer praktischen Vernunft in ihm weiß. Dann obliegt es dem Zufall, ob es böse oder gut ist, wobei sich die Waage zum Bösen zuneigt, wenn die Welt und der Mensch in ihr sich vom Zufall abhängig machen. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier, dass er nicht böse sein muss. Er kann es ausdrücklich anders wollen; aber er muss es wollen aufgrund eines Wissens über die in ihm waltenden Vernunft. Das Tier oder die Natur besitzen keine Vernunft, die es möglich macht, dass die Natur gegen sich selbst handelt oder das Tier gegen seine natürlichen Instinkte. Dazu ist nur der Mensch in der Lage und diese Fähigkeit macht ihn gut, aber nur wenn der Mensch um diese Fähigkeit weiß und wenn er überdies auch diese Fähigkeit gegen seine in ihm waltende Natur (Neigung, Gefühl) anzuwenden gewillt ist. Ein Mensch, der nur in und für seine Gefühle lebt muss nichts wollen. Im Sinne der praktischen Vernunft muss man ausdrücklich handeln wollen, ggf. auch gegen die Erfahrung, die dem Menschen zuflüstert, entsprechend seiner Neigung und Gefühle zu handeln. By the way besteht Höffes Fehler darin, dass er nicht zwischen praktischer und reiner Vernunft differenziert. Das reine Vernunftkonstrukt (“Kritik der reinen Vernunft”) mag Vorbild für die Entwicklung des praktischen Vernunftkonstruktes (“Kritik der praktischen Vernunft”) sein, ist mit ihm aber nicht identisch. Diese Identität legt Höffe nahe, wenn er immer wieder von der “reinen praktischen Vernunft” spricht. Er unterscheidet nicht zwischen Gegenstand und dem Bild, das man sich von diesem Gegenstand machen kann. Damit fällt er als Kant-Experte hinter Kant zurück.
Der Satz “Kritik der Vernunft” kann auf zweierlei Weise verstanden werden. In der einen ist die Vernunft Gegenstand der Kritik, als Objekt, und in der anderen kritisiert die Vernunft. Dann ist sie Subjekt des Satzes. Als Subjekt agiert sie z.B., wenn sie zwischen Erfahrungssätzen (a-posteriori) und Vernunftsätzen (a-priori) unterscheidet. Die Vernunftsätze sagen uns, wie wir die Dinge um uns herum wahrnehmen, was die Dinge um uns herum für uns sind. Sie erzählen uns nichts über die Dinge an sich, was die Dinge aus sich selbst heraus sind. Das Ding als solches existiert (für die Vernunft) nicht. Und hier setzt die Kritik an der Vernunft an: Die Vernunft neigt von Zeit zu Zeit zu glauben, dass sie mehr über die Dinge erfahren könne, als es ihr zukomme. Zum Beispiel wissen zu können, woher die Dinge kommen. Von Gott, von wem sonst. Nur dass Gott nicht mehr im Bereich möglicher Erfahrung angesiedelt ist. Mit anderen Worten, die Vernunft neigt schnell dazu, über Dinge zu sprechen, die nicht mehr im Bereich möglicher Erfahrung angesiedelt sind und zwar so zu sprechen, als wären sie real, resp. im Bereich möglicher Erfahrung angesiedelt.
Mit dieser doppelten Kritik, die darin besthet, die Vernunft als Subjekt und Objekt zugleich zu verstehen, hat Kant die Vernunft vom Himmel auf die Erde geholt und ins menschliche Innenleben transportiert. Er ist überzeugt, dass die menschliche Erfahrung sich des menschlichen Verstandes unabhängig von Gott bedienen könne und zwar in den Grenzen möglicher Erfahrung, in der Lage, diese zu identifizieren. Dadurch sei die Vernunft ganz und gar ohne Gott denkbar. Wir sehen, der Bote mit der Nachricht vom Tod Gottes ist mit Kant fleißig unterwegs, aber noch nicht am Ziel. Denn auch Kant ist ein tief gläubiger Mensch; es sei vernünftig, an Gott zu glauben, aber unvernünftig zu glauben, man könne etwas über ihn wissen. Auch wird er uns keinen Frieden bringen. Den müssen wir ausdrücklich wollen, indem wir nicht nur die reine Vernunft (Kategorien), sondern darüber hinaus die praktische Vernunft in uns zur Kenntnis nehmen. Die Menschen sind nicht nur selbst dafür verantwortlich, ob sie die physisch beschreibaren Dinge um sich herum vernunftgemäß sehen, sondern sie sind auch dafür verantwortlich vernunftgemäß miteinander umzugehen. Dazu müssen sie allederdings lernen, auf die (innere Stimme) Vernunft zu hören, was natürlich voraussetzt, dass sie wissen, auf welche Weise diese Stimme zum Ausdruck kommt. Das heißt, auch im moralischer Hinsicht trieb Kant das philosophische Projekt einer Versubjektivierung weiter: vorerst freilich noch als Verinnerlichung des Objektiven in Gestalt der reinen und der praktischen Vernunft. Letztere ist als innere (gleichsam gesetzgebende) Stimme im Menschen angesiedet, um unentwegt zum Menschen zu sprechen:
“Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.”
Platt gesagt: Handle stehts so, wie du möchtest, dass man dich behandelt. Das ist nicht Gott, der so spricht, sondern die praktische Vernunft in Gestalt des berühmten Kategorischen Imperativs. Wie wir sehen können, ist die Welt aber nicht so, wie dieser Imperativ nahelegt. Die Menschen besitzen zwar die Vernunft; wissen diese aber nicht zu gebrauchen. Sie müssen erst noch herausgetreten aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit. Die Aufklärung hat die Aufgabe, die Menschen aus dieser Unmündigkeit zu befreien. Ist das geschehen, bricht der Weltfriede aus. Ein Zirkelschluss. Die Welt wird gut, wenn der Mensch gut ist. Der schwarze Peter liegt beim Menschen; genauer: im Innenleben des Menschen begründet. Dort hat die Vernunft ihren Sitz. Das müsse der Mensch erkennen und nach ihren Vorgaben handeln wollen, wobei der Akzent auf dem Wollen liegt. Nun ja, und wie wir alle wissen, heißt es nun mal: der Geist ist willig, das Fleisch aber schwach. Und: wer nicht will, hat selber Schuld, der muss sich nicht wundern, wenn ihm Grundrechte nicht gewährt werden.
Kant postuliert hier eine Form der Autonomie des Subjekts, die es nicht gibt: er begreift die Autonomie aus dem Innenleben des Menschen und nicht aus der Intersubjektivität, bzw. der Fähigkeit des Menschen heraus, Beziehungen einzugehen und selbständig am Laufen zu halten. Erst in dieser entsteht Moral; die Moral entsteht nicht im Vorfeld möglicher Intersubjektivität. Beziehungen entwicklen sich immer und stets im Kontext außersubjektiver und überstruktureller Strukturen. Wobei die Superstruktur nicht mehr in Form von Gott oder einer beliebigen symbolischen Repräsentanz existieren kann, sondern es muss sie in Gestalt einklagbarer Grundrechte geben, damit soziale Beziehungen (Strukturen) sich sozialverträglich entwickeln können und vor allem nicht immerzu in und um sich selbst kreisen müssen. Einklagbare Grundrechte stellen den letzten Schritt dar auf dem Wege zur Rekonstrution des Objektiven, an dessem Ende zugleich eine nicht nur vorgestellte, sonder eine wirkliche Autonomisierung des Subjekts steht, eine solche, die ihren Namen verdient. Dann ist Gott oder die Vernunft als natürliche Eigenschaft des menschlichen Innenlebens nicht das Maß, an dem sich der Mensch und seine sozialen Strukturen messen lassen können, sondern eine Moral, die aus den Beziehungen selbst entsteht. Demgegenüber ist der Kantsche Ansatz in zweifacher Hinsicht problematisch:
Zum einen verdrängt er die Bedeutung der menschlichen Bestandsregung, der Fähigkeit des Menschen zu fühlen und für sich und seine Strukturen einzustehen: meinem Kind soll es besser gehen; er verdrängt, dass die menschliche Bestandsregung fundamental ist und nicht die praktische Vernunft, die Kant als Eigenschaft apriori im Menschen angesiedelt sieht.
Aber der Mensch ist nicht nur Gefühlswesen. Denn das Gefühl existiert wie das Subjekt nicht als solches, sondern im Kontext sozialer Strukturen, auf die sich das Gefühl freilich unmittelbar ergießt. Es existiert mit einem Objekt der Begierde oder gar nicht. Doch das Gefühl bedarf keiner (Vernunft-)Gründe, um zu lieben oder zu existieren. Es bedarf freilich eines Maßes, an dem es sich messen lassen kann und muss; gegen sich gerichtet, nachdem es zur Bestandsregung mutiert ist: Mir soll es besser gehen. Wie es anderen geht, interessiert mich nicht oder allenfalls als Lippenbekenntnis.
Und schließlich ist auch richtig: auf den ersten Gefühlsimpuls, der eine Struktur unmittelbar bestzt, folgt etwas Drittes, dass sich zwischen Gefühl (Subjekt) und Struktur, in die es involviert, drängt, um den anderen einzubeziehen, gefühlsverdrängend, nicht um zwischen Gefühl und Struktur zu vermitteltn (alles in Maßen), sondern das Dritte existiert als Vorstellung von dem, was sein soll. Es kann durchaus selbst zum Objekt der Begierde werden. Ja, es gibt so etwas wie Liebe zum Rationalen. Mit anderen Worten, es finden ständig Verschiebungen (des Gefühls) statt; diesmal nicht des Objektiven im Sinne eines alles verobjektivierenden Substrats, das sich in Jahrhunderten des Innenlebens bemächtigt hat, das Subjekt entdeckend, wohl wahr, doch nur um es wiederum unter sich zu begraben. Nein, die Akzente haben sich verschoben; es finden Verschiebungen des Gefühls im Objektbezug statt. Dies auf zweierlei Weise: Entweder sozailunverträglich, indem die Verschiebung auf symbolische Strukturen (einen entfernten Führer oder Gott) und ausschließlich auf symboloische Strukturen verweist, bzw. alle andere Strukturen, vor allem die des alltäglichen Nahbereichs, davon abhängig besetzt; so in der Art: ich bekomme einen hoch, nachdem ich den Führer erleben durfte. Oder die Verschiebung kann letztendlich und damit sozialverträglich auf einklagbare Grundrechte verweisen, die eine Autonimisierung des Subjekts nicht nur als schöne Vorstellung, sondern auch praktisch gewährleisten. Und das funktioniert unter der Bedingung, dass der Regelmechnismus der Kapitalverwertung im Wirtschaftsgeschehen herrscht, auf keinen Fall. Das bedeutet umgekehrt noch lange nicht, dass Menschen ganz gewiss sozialverträglich miteinander umgehen würden, wenn es die Kapitalverwertung nicht mehr gäbe, auch wenn sich die Chancen dafür massiv erhöhen würden.
Ich möchte die Bedeutung Kants wie folgt zusammenfassen: nach Kant gibt es die Dinge der Welt durch das Auge unseres Verstandes und seiner Emanation, der Vernunft, hindurch. Die Verstandeskraft legt sich transzendierend, Metaphysik (Vernunft) produzierend, das heißt “über” die Dinge, freilich ohne dass die Vernunft mit ihnen, den Dingen (der Erfahrung), identisch ist (Ist-Soll-Differenz). Ferner ist Kant zufolge das Innen (Gefühl, die Bestandsregung) dennoch unmittelbar, aus sich heraus, durch Vernunft domestizierbar. In diesem Fall sind Maß und zu Messendes eins, denn die (moralische) Vernunft ist Teil des Innenlebens im Widerstreit zum (inneren) Gefühl, zur Bestandsregung, die das Innenleben ausfüllt. Das Innenleben erzeugt sich gleichsam selbst und kritisiert sich zugleich selbst. Das macht die “Kritik der praktischen Vernunft” doppeldeutig. Die Vernunft kritisiert sich selbst, um kritisieren zu können. Aber diese Kritik ist belanglos, da sie sich nur innerhalb der Grenzen des Subjekts abspielt und den Sprung in die (reale) Intersubjektivität meidet wie der Teufel das Weihwasser.
C26.13.4 Mensch und Maschine
Ich möchte das Problem anhand eines Beispiels aus der Informatik illustrieren, das später in einem anderen Zusammenhang zugleich ein Licht wirft auf die Mensch-Maschine-Problematik, die der Fortschrittsoptimus des neuzeitlichen Rationalismus (seit Descartes) in die Welt gebracht hatte. Descartes dachte, man könne die soziale wie die naturwissenschaftlich beschreibbare Welt wie eine große Maschine begreifen, in der alle Teile (perefekt) ineinandergreifen. Der Mensch und seine soziale Welt funktioniere quasi wie ein Uhrwerk. Wir würden nur nicht alles durchschauen. Das könne nur Gott; denn der habe uns und die Welt schließlich geschaffen, als müsse er auch wissen, wie alles funktioniere. Dies gebiete die Logik, die in der Realität verankert sei: Alles habe seine Ursache, auch die Existenz der Erde. Sie könne nicht aus dem Nichts entstehen, also müsse es einen Schöpfer geben. Und man war überzeugt, dass soziale und naturwissenschaftliche beschreibare Wahrheiten von ihrem Wesen her gleich seien. Das führte exakt in den Positivismus des 19.Jahrhunderts. Heute gibt es gute Gründe anzunehmen, dass der Positivismus eine Sackgasse war. Selbst für die Informatik stellt sich die Frage, ob (Anwendungs-)Systeme perfekt wie ein Uhrwerk zu funktionieren können, ohne jemals im Hinblick auf ihre Anforderungen überfordert zu sein. Wahrscheinlich sind sie überfordert. Entwicklungslogisch kann das Input-Output-Verhältnis eines Systems nie vollständig abgebildet werden. Das bedeutet: auch in der maschinellen Welt der Automaten gibt es eine Differenz zwischen Konstrukt und Realität, die sich nicht schließen lässt.
Doch wie stellt sich das Problem der Ist-Soll-Differenz aus der Perspektive der objektorientierten Anwendungsentwicklung dar? Zunächst gibt es Standard-Objekte als Vorbilder für neu zu erstellende Objekte. Sowohl Standard- als auch Anwendungsobjekte gehören der Laufzeitumgebung an. Werden die Objekte zur Laufzeit instantiiert, muss es die Vorbilder geben. Würde zur Laufzeit eines Anwendungssystems nur eines der verwendeten Standardobjekte fehlen, würde das Anwendungssystem nicht laufen. Ein Standardobjekt selbst laufen zu lassen, wäre zwar technisch möglich, aber vollkommen sinnlos.
Nehmen wir das in der Klassenhierachie an oberster Stelle stehende Objekt aus der sogenannten JAVA-Umgebung. Es trägt den Namen “Objekt”. Von diesem Objekt stammen alle anderen Objekte ab. Sowohl alle weiteren Standard Das, was das oberste Objekt kann, können alle von ihm abstammnden Objekte auch und natürlich einiges mehr. Jedes (neue) Objekt enthält z.B. die Fähigkeit, über sich selbst Auskunft zu erteilen und zwar mit Hilfe der Methode “toString”. Diese Fähigkeit (Methode) besitzt automatisch jedes Objekt, auch die, die von einem Anwendungsentwickler neu erstellt worden sind. Nennen wir dieses neue erstellte Objekt MeinKunde. MeinKunde wird zwingend auf der Grundlage von “Objekt” erstellt und enthält und kennt damit automatisch die Methode toString, um über sich selbst Auskunft zu erteilen. Würde das neue Objekt MeinKunde diese Methode toString aufrufen, so würde eine Auskunft erteilt, die für einen Anwender am Bildschirm nicht sehr aussagekräftig wäre. Heraus käme eine Hauptspeicheradresse in Gestalt einer Zeichenfolge, z.B. 134235433, irgendein Zahlensalat. Der Anwender am Bildschirm würde aber gern den Namen und Nachnamen und einiges mehr über den Kunden erfahren. Das heißt, die Methode müsste neu geschrieben werden. Der neue Code würde allerdings unter dem gleichen Methodennamen toString laufen. Man sagt: die Methode wird überschrieben mit dem Ziel, dass sie eine für den Anwender sinnvolle Auskunft erteilt und am Bildschirm anzeigt.
Warum aber sollte man für die Auskunfts-Methode innerhalb des neuen Objekts MeinKunde nicht auch einen neuen Namen vergeben, z.B. zeigeMeinKunde? Das wäre möglich; nur würde das gegen die Konventionen der Objektorientierten Anwendungsentwicklung verstoßen. Ihre Einhaltung ist nicht nur eine Sache der Schönheit, sondern laufzeittechnisch geboten. Das heißt, das Objekt MeinKunde wäre vielleicht fürs erste instanziierbar und lauffähig; der neu vergebene Methodenname wäre aber der Grund für mögliche spätere Instabilitäten des gesamten Anwendungssystem, in dem das neue Objekt MeinKunde nur einen kleinen Ausschnitt darstellt.
Kurzum: In der objektorientierten Anwendungsentwicklung werden auf der Basis von Standardobjekten neue Objekte entwickelt, die, und das ist entscheidend, ohne diese Standardobjekte nicht instantiierbar wären. Das heißt, die überschriebene Methode eines neuen Objekts braucht zur Laufzeit die Methode des Standardobjekts (ihres Vor-Bildes), vorausgesetzt, die Methode ist innerhalb des Objekts als vererbbar gekennzeichnet. Das die Methode toString, da sie eine universelle Eigenschaft (Fähigkeit) repräsentiert, die für jedes beliebige Objekt gilt. Objekte müssen in der Lage sein, über sich selbst Auskunft zu erteilen.
Wozu aber eine Standardmethode, wenn der Anwender auf dem Bildschirm ihre Auswirkungen nie zu Gesicht bekommt? Natürlich hat sie eine Funktion, freilich nur eine (unsichtbare) im Hintergrund, für die sich kein Anwender interessiert. Ich möchte es einmal so ausdrücken: das neue Objekt (mit ihr die überschriebene Methode) wäre vollkommen überfordert, einen Anwender mit der gewünschten Auskunft zufrieden zu stellen, würde man es ohne Standardobjekt (Standard-Methode) sich selbst überlassen.
Philosophisch gewendet: die Theorie (Vorstellung, Konstruktion) muss ständig präsent sein, damit die Praxis: das neue Objekt, wie es leibt und leben soll, für den Anwender auf der Benutzeroberfläche funktioniert. Und dennoch wird die Theorie (das Standardobjekt) niemals die Praxis (das laufende Anwendungssystem) abbilden. Es existiert eine grundsätzliche Differenz zwischen Vorstellung (Standardobjekt) und Realität (laufendes Objekt). Und dennoch muss das Standardobjekt zur Laufzeit des neuen Objekts im Hintergrund ständig präsent sein. Zwingend. Andernfalls wären Instantiierungen (Hauptspeicherbelegungen zur Laufzeit) nicht möglich.
Analog dazu ist die Vorstellung (Theorie) von der sozialen Praxis unmittelbar praktisch; vorausgesetzt, die Theorie berührt die Praxis und hängt nicht irgendwo über den Wolken als Verheißung für irgendwie etwas. Eine Trennung von Theorie und Praxis ist freilich zu analytischen Zwecken geboten. Ohne die Fähigkeit zur Trennung würde der Sozius Theorie und Praxis verwechseln oder vermischen; Innen und Außen nicht auseinander halten können; (soziale) Phantasie und (soziale) Realität verwechseln. Er würde glauben, die Phantasie, eins zu eins wie sie ist, auf die soziale Realität übertragen zu können. Der Missbrauch wäre nicht zu vermeiden, geschweige denn aus der Beobachterperspektive zu begreifen. Man würde nicht begreifen, wie und warum ein objektorientiertes Anwendungssystem läuft, geschweigen denn, dass man für den Anwendungsentwickler eine Entwicklungsumgebung begreifen und entwickeln könnte. Dies nur zur Illustration. Es liegt nicht in meiner Absicht, Maschine und Mensch gleichzusetzen.
Analog dazu wird Verständigung möglich, weil wir wir uns vorstellen (können), dass Sprache und Sprechen gegenstandsbezogen an Tatsachen kleben. Was die Realität tatsächlich hergibt, steht auf einem anderen Blatt: der Tatsachenvorstellung folgt das Missverständnis auf dem Fuß, sobald wir über ganze Sätze in einen Ganzheitsbezug geraten, der dann in der Tatsache nicht mehr aufgeht, weil ihr die Vorstellung (Theorie) von einem (nicht reduziblen) Ganzen immer wieder in die Quere kommt, freilich auf eine Weise, dass die Idealität (Vorstellung) sich an der Praxis bricht. Letztendlich begründet das Spannungszustände zwischen Menschen, wenn sie kommunizieren, die sie nicht haben wollen. Das Problem ist, dass Menschen es nicht lernen (wollen), mit Spannungen umzugehen und deshalb in ihrer Kommunikation immer wieder, bis hin zur vollständigen Demenz (Form von Autismus), auf einem realen Tatsachenbezug bestehen (Kap.10.3), mithin darauf, dass ihre Vorstellung von Realität die Realität unmittelbar abbildet oder abbilden kann. So seht doch, wie gewalttätig sie sind; wir brauchen ein härteres Strafrecht. Als würde die Vergewaltigungsphantasie die Sexualität wie sie leibt und lebt abbilden. Das tut sie nie! Im Orgasmus hält sich keine Phantasie mehr. Wozu auch. Danach ändert sich das Gefühl der Phantasie gegenüber, über die berühmte Verschiebung des Gefühls im Objektbezug. Gefühle sind einfach nicht konservierbar; sie ändern daher ihre Natur: das Objekt der Begierde. Zuweilen tritt so etwas wie ein Vernunftkonstrukt zwischen Gefühl und dem ursprünglichen Objekt der Begierde, um seinerseits – oh Reflexion! – zum Objekt der Begierde zu mutieren. Verschiebungen, wohin man schaut, im Sekundentakt. Na ja, wir wollen nicht übertreiben. Man stelle sich aber mal vor, die Theorie würde die Praxis abbilden; es gäbe nichts mehr, vorüber sich substanziell streiten ließe: Alle Fragen würden sich auf bloße Verständigungsfragen (richtig oder falsch) reduzieren lassen; selbst vor Fragen des Gefühls macht der Positivismus, dement wie er nun mal ist, nicht halt: Du hast dich nicht gewehrt, sagt die Vergewaltigung; dann hast Du es also gewollt, ja vielleicht sogar etwas gefühlt, du heimliche Nutte. Mein Gott, viele Vergewaltigungen laufen so ab, dass sich das Opfer nicht wehrt, immer wieder, sonst gäbe es wohl viel mehr Tote.
Was wäre das für eine Welt? Der Positivismus glaubt, dass die Welt auf Verständnisfragen (Logik) reduzierbar sei, so auch das Soziale und der Mensch, sogar die Sexualität, wie eine Maschine, immer besser durchschaubar. Descartes glaubte an solch eine Maschinen-Welt wie im übrigen der Fortschrittsglaube bis ins 19.Jh. hinein. Im 20.Jh. kam dieser Glaube durch zwei Weltkriege und den NS-Völkermord an den Juden ins Wanken, um sich dann bis heute immer wieder zu erneuern. Man hat ihn bisher mit philosophischen Mitteln leider nicht nachhaltig überwunden. Immer nur dagegen angejammert.
C26.13.5 Ein Unding: einklagbare Grundrechte für alle
Der Mensch sieht bis heute die Welt entweder durch das Auge Gottes oder des Verstandes, bzw. der Vernunft als Emanation menschlicher Verstandestätigkeit. Das verweist auf einen unzureichenden Gesellschaftsbegriff. Zu einem zureichenden Gesellschaftsbegriff kommen wir nur, wenn sich die sozialen Strukturen an etwas messen lassen, bzw. wenn wir die sozialen Strukturen durch ein Auge sehen, das sich ganz und gar nicht mehr aus der Natur ableitet, weder dem Auge der Vernunft noch durch Gottes Auge, der ja bis in die Aufklärung hinein als Inkarnation vernünftigen Sehens und Denkens galt, wiewohl er den sinnlich wahrnehmbaren Dingen des Sozialen, die physisch beschreibbaren Dinge einschließend, schon immer fremd (WIF-C19) gegenüberstand, was zu Streit bis hin zu Ketzereien jeglicher Art ständig Anlass gab. Heute bedarf der kurzweilige Strukturwandel in dieser Welt (der vor unseren Augen wahrnehmbar geworden ist, weil er sich nicht mehr über Jahrhunderte hinzieht) etwas anderes als ein “Maß aller Dinge”; setzt dieses doch die unverrückbare Vorstellung (innere Gewissheit) stabiler Strukturen voraus, um ein universales Maß als vernünftig zu legitimieren. Das ist heute nicht mehr möglich in einer Welt, die sich vor unseren Augen immer wieder ändert. Daher kann Gott bei aller Liebe nicht mehr als das Maß aller Dinge gelten; ebenso wenig die Vernunft. Ein Maß, das für alle gilt, kann es daher nur noch in Gestalt unteilbarer, absolut geltender Grundrechte geben, gegen jede Vernunft. Diese ist letztendlich ein Kind der Bestandsregung und der mit ihr verbündeten sozialen Strukturen. Wie ist das zu verstehen?
Nun, die Vernunft im Sinne einer Vorstellung “über” etwas, schiebt sich immer wieder zwischen die Bestandsregung und die sozialen Strukturen, auf die sie unmittelbar verweist, so unmittelbar, als gäbe es kein noch so dünnes Papier (auf dem “Vernunft” geschrieben steht), was sich zwischen Gefühl und Struktur schieben ließe. Und doch schiebt sich die Vernunft immer wieder zwischen Gefühl und das, worauf dieses Gefühl unmittelbar verweist. Das lässt Gefühle fahl werden mit der Folge einer Verschiebung des Gefühls im Objektbezug; wir haben darüber gesprochen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu verstehen, dass die Vernunft körperbezogen ist, wie im Übrigen auch Gott, und damit relativ, also maßlos per definitionem. Das, was wir für unverrückbar halten: einklagbare Grundrechte, ist daher auch nicht begründbar. Das würde die Grundrechte um ihre absolute Geltung bringen. Dieser Zusammenhang ist mir so wichtig, dass ich ihn noch einmal wie folgt beschreiben möchte: die Bestandsregung ergießt sich einerseits unmittelbar auf die soziale Struktur, so als habe sie die Vernunft nicht nötig. Andererseits ist die Regung gehalten, sich auf “ihre” sozialen Strukturen mit Hilfe der Vernunft zu beziehen, unentwegt Zwischenwelten vernünftigen Denkens (Vorstellungen) konstruierend, die sich zwischen Bestandsregung und sozialen Strukturen drängen. Insofern entrinnt die Vernunft niemals dem Körperlichen, wie schon Gott es niemals vermochte (er bedurfte des Menschensohnes), obwohl für die Bestandsregung gilt, dass die Vernunft zwischen Bestandsregung und sozialen Strukturen nichts zu suchen hat. Mit anderen Worten: Vorstellung (Theorie) und Tatsache (Vorstellung “über” etwas) haben nichts miteinander gemein; das, obwohl die Tasache völlig überfordert wäre, wenn sie ohne Vorstellung von sich selbst mit sich selbst umginge. Kurzum, es gibt sie nicht, die Tatsache als solche; wenn man so will, ist das berühmte “Ding an sich” ein Un-Ding. In der Tat existiert es nur durch den Verstand (unsere Vorstellung von einem Ding) hindurch, wie Kant sagte. Das gilt für physische wie für die sozial beschreibbare Sachverhalte. Auch die Menschen um uns herum sind immer nur das, was wir uns unter ihnen vorstellen oder “über” sie reden, und niemals das, was sie in Wirklichkeit sind. Wie absurd: anders kämen wir mit unseren Bestandsregungen gar nicht zurecht; die Tatsache braucht die Vorstellung, die sich “über” die Tatsache legt (Applikation), obwohl beides nichts miteinander zu tun hat.
In diesem Zusammenhang behaupten wir allerdings keineswegs, dass es möglich ist, dass die Vernunft in der Lage ist, sich selbst selbst zu kritisieren. Das heißt, wir sind keineswegs Kantianer, zumal für Kant die (praktische) Vernunft, also die Moral, als Eigenschaft, bzw. als nachweisbarer (sozialer) Sachverhalt im Inneren des Menschen angesiedelt ist. Für uns existiert sie außerhalb des Menschen als etwas anderes, nämlich als etwas, worauf Menschen im Sinne einer Innen-Außen-Beziehung sich beziehen können: auf einklagbare Grundrechte als Voraussetzung, dass soziale Strukturen im Sinne des Subjekts verobjektivierbar bleiben. Im Sinne des Subjekts will sagen; das Subjekt ist in der Lage, sich den Strukturen zu entziehen. Andernfalls wäre es dazu verurteilt, sich unter ihnen begraben zu lassen. Für Kant undenkbar, dass dies auf der Basis einer außersubjektiven Entität, resp. einklagbarer Grundrechte geschehen muss. Für Kant spielt sich “alles” im Inneren des Menschen ab. Unbenommen davon, dass er die Vernunft außerhalb der Natur angesiedelt sah, also auch außerhalb des Menschen, wenn man voraussetzt, dass der Mensch Teil der Natur ist und nicht über ihr steht. Er stehe, so Kant, über der Natur mit Hilfe seines Willens, der sich der Natur (der Neigung, dem Gefühl) widersetzt. Dadurch wird der Mensch zur Krone der Schöpfung, durch die Fähigkeit zur Vernunft, die er in sich spüren und überdies wollen muss. Einen solchen Willen, dies (das Gute, was die Vernunft vorgibt) oder jenes (das Böse, was die Neigung oder die Natur vorgeben) zu machen, besitzt das Tier nicht; es macht immer nur das, was es machen muss; signalgesteuert aus dem Instinkt heraus. Willenlos. Im Unterschied zum Tier besitzt der Mensch Vernunfteigenschaften, die er ganz und gar gegen seine Natureigenschaft wollen muss, wider die Natur in ihm, die es zweifellos neben der Vernunft im Menschen angesiedelt gibt. Für Kant ermöglicht die Natur im Menschen das ganz und gar Böse (den Trieb, der den Nebenbuhler totschlägt), während die Vernunft das Gute (die Moral) dagegen setzt. Beides, Gut und Böse, stehen im Inneren des Menschen im ständigen Kampf miteinander, der sich entweder zum Guten oder zum Bösen hinneigt. Überwiegt das Böse (die Natur, die Neigung), kann man nicht mehr viel machen. Dann ist der Mensch verloren für den ewigen Weltfrieden. Soll er für den ewigen Frieden gewonnen werden, muss man ihm beibringen, seine Verstandeskräfte derart zu gebrauchen, dass sich die “gute” praktische Vernunft im Menschen durchsetzen kann, gegen seine Natur oder seine natürliche Neigung (Bestandsregung).
Letztendlich setzt die Vernunft also voraus, dass der Mensch in der Lage ist, gegen seine natürliche Neigung zu handeln, also die linke Wange hinzuhalten, auch wenn es sich nicht immer vermeiden lasse, das Böse in der Welt einzudämmen, soll es nicht die ganze Welt in Mitleidenschaft ziehen, zumal solange sich die Aufklärung im Sinne eines richtigen Vernunftgebrauchs in den Menschen noch nicht durchgesetzt hat. Deshalb hat Kant auch keine Probleme mit der Todesstrafe. Solange das Böse die Welt in ihrem Bestand bedroht, sind Kriege unvermeidlich, z.B. gegen die RAF oder den heutigen Terrorismus. Deshalb liebte Kant seinen kriegslüsternen König, Friedrich den Großen, von ganzem Herzen, der die Welt ständig in Gefahr, in Wirklichkeit freilich vor allem sich selbst bedroht sah. Der Nachfolger Friedrichs des Großen kam bei Kant weniger gut weg, weil er nicht immer den Eindruck machte, als verstehe er das Kantwerk. Tatsache blieb für Kant, dass das Böse bekämpft werden muss. Deshalb hat es für ihn auch wenig Sinn, einem Straftäter Grundrechte zu gewähren. Die würden durch das Böse im Straftäter nur missbraucht. Hier denkt und handelt Kant sehr wohl im Einklang mit seiner Neigung. Freilich ist er zu aufgeklärt, oder besser gesagt: er fühlt sich zu aufgeklärt, um zu merken, dass er hier ganz und gar mit seiner inneren Neigung im Einklang denkt und handelt. Später, im Alter, meinte er denn auch altersweise, ein wenig Neigung wäre vielleicht doch ganz angebracht, um die Vernunft in der Welt voranzubringen, so in der Art: die Neigung ist den Gebildeten und Saturierten vorbehalten, während der Straftäter gehängt wird. Über diese Heuchelei hat sich Marx Zeit seines Lebens aufgeregt. Zu recht, wie ich meine.
Wir sind mit Kant der Meinung, dass es ganz und gar nicht einsehbar ist, dem Straftäter, zumal einem schäbigen Kindesentführer, der das Versteck des entführten Kindes nicht preisgibt, Grundrechte zu gewähren. Das entspräche ganz und gar nicht unserer Neigung. Wir gewähren Grundrechte denn auch nicht, weil es der Natur unserer Existenz entspricht, auch nicht weil “Vernunft” in uns verborgen liegt, von der man sich Kant zufolge gegen die eigene Neigung leiten lassen müsse. So etwas ist purer Voluntarismus, zumal ein Mythos. Der Mensch tut aus sich heraus nichts gegen seine Neigung. Da gibt es im Menschen nichts, was dies befördern könnte. Hier sieht Kant etwas, was es nicht gibt. Im Ggenteil wird das Innenleben wahrnehmbar beherrscht von der Bestandsregung, durch nichts sonst. Das schlechte Gewissen ist Teil der Bestandsregung, mithin nur ein schlechtes Gefühl, das über die Verschiebung des Gefühls im Objektbezug verdrängt wird, mehr oder weniger, in der Lage, zu einem guten Gefühl zu mutieren, bzw. das Objekt erscheint in Verbindung mit dem Gefühl in einem anderen Licht, so dass sich das Objekt in der Vorstellung ändert, zusammen damit, dass die Natur des Gefühls sich ändert, ohne dass der Sozius wahr haben möchte, dass das ursprüngliche Objekt der Begierde de facto nicht mehr existiert, je mehr Zeit vergeht. Wobei die Zeit völlig unschuldig ist. Es ist die Fähigkeit zu vergessen, die alles in einem veränderten Licht erscheinen lässt. Die Dinge bilden Erlebnisschichten der Vergangenheit in uns, je länger sie zurückliegen, immer tiefere Schichten, so Proust in seiner Romanserie “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”,
“um dann – plötzlich und unerwartet – wie ein freigelegtes Fossil aus großer Entfernung zu Menschen zu sprechen, immerzu geduldig wartend, bis es durch zufällige Begebenheiten oder Gegenstände der Gegenwart freigelegt, gleichsam wachgeküsst worden ist, um das immer wieder mal vor sich hindämmernde Leben zu beleben, die endliche Zeit mit überirdischen Gefühlen, mit Zeitlosigkeit, zu kontaminieren.” (WIF-DPB, 45)
Später heißt es, Proust hinzuziehend, ergänzend (WIF-DPB, 202f):
“Der Suche nach der verlorenen Zeit geht notwendig das Vergessen voraus, ohne das sich eine zur Signalfähigkeit geschrumpfte Vergangenheit, resp. übereinander liegende Entwicklungsschichten, die als Essenz in gegenwärtigen Dingen aufbewahrt sind, nicht entfalten könnte, um – im Falle eines zufallsgesteuerten Auslösers – das Leben des gefühlshungrigen Subjekts zu beleben, durch Dinge, die uns zustoßen. Nur so ist Vielgestaltigkeit möglich; nur so lässt sich das (eigene) Leben variabel gestalten, mit Liebe und Schmerz zugleich, ein Spannungszustand, den das Subjekt im Vollkoma des Liebeswahns problemlos erträgt, um nicht zu sagen: genießt, will sagen: der Spannungszustand löst sich in der Liebe auf: ‘Ein unerhörtes Glücksgefühl (...) Mit einem Schlag waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Missgeschicken (...) geworden. (PRM-SZ1, 63f)’ ” Das Vergessen zeige “wie sehr und warum die Liebe eine vergängliche Angelegenheit ist, völlig problemlos zur Disposition steht dort, wo sie das Subjekt mit einem Zauber betäubt, der sich aus der Vergangenheit speist und damit zur bloßen Imagination ohne praktische Bedeutung für den geliebten Menschen gerinnt: ‘Der Grund des Zaubers schien mir zu sein, dass ich Albertine noch immer ebenso liebte, während er in Wirklichkeit sich daraus ergab, dass das Vergessen in mir Fortschritte machte, dass die Erinnerung an Albertine mir nicht mehr grausam war. (PRM-SZ6, 201)’ ”
Analog zeigt die Masturbation, dass die Vorstellung (von einer geliebten Person) zwar schön ist, aber, bei aller Liebe, mit der realen Person nichts zu tun hat. Das macht den Sozius anfällig für den Missbrauch, bzw. sich missbrauchen zu lassen. Die Verschiebung mag dazu führen, dass das Subjekt sich selbst entdeckt, und dennoch ist der Missbrauch in der Verschiebung allgegenwärtig, freilich unter der Bedingung, dass das Gefühl zur unendlichen Sehnsucht gerinnt, zum unendlichen Gefühl, das sich symbolisch ergießt auf ein unerreichbares Objekt, z.B. auf Gott oder einen Führer oder, was auf dasselbe hinausläuft, auf die Erinnerung an eine geliebte Person verweist, um es abzulehnen, sich durch das gegenwärtige, d.h. lebendige und reale Objekt (den realen Führer wie er mordet) ankränkeln zu lassen (wenn der Führer das wüsste...). In diesem Fall interessiert sich der Sozius nicht für die geliebte Person, wie sie leibt und lebt, noch da, wo er tiefe Liebe fühlt (für den Führer, für Gott). Ja, auch auf Gott trifft das zu: Hiob hat keine Chance. Es mag ihm noch so schlecht gehn, Gott weiß immer eine Antwort, die es geraten erscheinen lässt, dass sich Hiob mit seinem Schicksal abfindet. So etwas mag nicht nur auf die intime Liebe übertragbar sein, sondern auch für die Gefühle (Liebe) z.B. eines Politikers gelten, die dieser angeblich dem Bürger gegenüber verspürt. In Wirklichkeit missbraucht er den Bürger (wie Gott den Hiob) gerade dort, wo er es gut mit ihm meint (Gott meint es auch immer gut), freilich mit Hilfe eines “idealen Bürgers”, den er sich im Laufe seines Lebens in seiner Vorstellung gestrickt hat, an der er den wirklichen Bürger (wie er leibt und lebt) unnachsichtig misst. Der wirkliche Bürger hat wie Hiob keine Chance. Er stört den Politiker nur beim Politikmachen. Doch mag der Führer kleine Mädchen, wenn sie ihm mit einem Knicks Blumen reichen.
Das heißt, der ideale Bürger verträgt sich nicht mit dem realen Bürger, zumal wenn der Politiker – auf Analyse kein Bock – “seine” Idealität von der Realität, wie sie wirklich ist, nicht trennen kann, um dann umso zuverlässiger Idealität und Realität zu verwechseln. Je weniger er trennen kann, je mehr ist ihm der wirkliche Bürger egal. Ich kenne denn auch keinen Politiker, der sich für die soziale Realität, für die er sich angeblich verantwortlich fühlt, angemessen interessieren würde. Entweder sie machen es wie Sarrazin (die vielen Türken sind unser Untergang) oder wie Claudia Roth (je mehr Moscheen, desto besser). Ich habe nichts gegen Türken, wenn sie unsere Gesellschaft nicht mit ihrem muslimischen Glauben traktieren würden. Der christliche Glaube macht uns schon genug zu schaffen mit all den Kirchen; da müssen nicht auch noch (zumal zum Gebet aufrufende) Moscheen hinzukommen. Das wäre ähnlich nervtötend, wie das ständige Gedröhne eines Basses aus der Nachbarwohnung. Mehr Glaube oder mehr Glaubensrichtungen haben außerdem mit mehr Kultur oder Kulturvielfallt nichts, aber auch gar nichts zu tun; schon gar nicht mit mehr Bildung. Im Gegenteil, je mehr die Religionen sich in den Körper unserer Gesellschaft frisst, umso dümmer wird sie.
C26.13.6 Noch einmal: Maß und zu Messendes
Über Maß und das zu Messende haben wir schon an anderer Stelle gesprochen (Kap.10.4), wobei das Maß, um zu messen, unabhängig vom zu Messenden zu begreifen ist, unabhängig von den sozialen Strukturen. Diese sind fallibel, nicht so das Maß: die Grundrechte sind nicht verhandelbar, unter keinen Umständen, auch wenn dies in Grenzsituationen immer wieder passiert. So ist der Mensch gestrickt; er fühlt sich seinen Bestandsregungen gegenüber verpflichtet. Diese ergießen sich in soziale Strukturen und bilden mit ihnen eine bestimmte Ethik, mithin Werthaltungen aus, eine Lebensweise, die sich normativ beschreiben lässt. Sie existiert als klienteles Bestandsinteresse. Das heißt, universale Grundrechte verweisen, wenn sie alle Menschen im Blick haben wollen, nicht unmittelbar auf ein normativ beschreibbares ethisches Interesse. Das heißt, ein moralischer Maßstab für alle geht in den Normen einer Ethik, die eine soziale Struktur beschreiben, nicht auf. Soziale Strukturen verweisen auf singuläre Interessen, die eher dazu neigen, Menschen zu bevormunden, z.B. in die Kirche zu gehen, oder sie zwingen Menschen zu einer Arbeit, die sie nicht wollen; vielleicht würden sie sogar einen Kindesentführer foltern, aus Verzweiflung, wenn dieser das Versteck eines entführten Kindes nicht preisgibt.
Dass das Maß (die Grundrechtsnorm) im zu Messenden (einer Ethik oder Werthaltung) enthalten ist und sich daher ändert, wenn sich das zu Messende, die soziale Struktur, ändert, ist für den herrschenden sozialwissenschaftlichen Diskurs leider kein Problem. Er sagt sich, hier ganz und gar Materialist, dass Grundrechtsnormen nicht vom Himmel fallen, sondern aus den sozialen Strukturen kommen; woher sonst? Sie können daher nicht unveränderlich sein; eine Trivialität, der wir uns widersetzen: es ist ein Unterschied, was jemand (oder etwas) faktisch ist oder wie wir jemand (oder etwas) begreifen; das Begreifen verweist konstruktiv auf ein Sollen; es ist durch die Wahrnehmung hindurch theoriegeladen. (WIF-DPB, Klappentext, 46-56) Das heißt, es kommt nicht darauf an, was in Bezug auf die klientele Bestandsregung die Grundrechtsnorm (objektiv) bedeutet, sondern wie wir sie in Bezug auf das begreifen, was wir politisch für alle wollen. In beiden Fällen wird Druck auf Menschen ausgeübt. Fragt sich nur wie und in welchen sozialen Kontext. Wesentlich ist:
(1) Druck in einem sozialen Kontext, in dem Menschen unmittelbar miteinander verkehren (lass es dir nicht gut gehen auf meine Kosten) und
(2) Druck, den anonyme Institutionen ausüben, wenn sie z.B. einen Arbeitslosen zu einer Arbeit zwingen, die er nicht will.
Dazu ein illustrierendes Beispiel: Man kann niemanden zwingen, mit jemandem zusammen zu leben, der den ganzen Tag im Bett liegt und nichts im Haushalt macht. Um sich einem solchen Druck zu entziehen, kann man sich trennen, ggf. scheiden lassen. Etwas anderes ist es, wenn es ein Gesetz gibt, das einen arbeitslosen Menschen zu einer (beliebigen) Arbeit zwingt. Dieser Differenz liegt ein Spannungsverhaltnis zugrunde zwischen Grundrechtsnormen, die die gesellschaftliche Ebene definieren, die ausnahmslos für alle Menschen gelten, auf der einen, und Normen, die soziale Strukturen beschreiben, auf der anderen Seite. Eine solche Differenzierung nimmt der herrschende sozialwissenschaftliche Diskurs nicht vor und ist daher nicht in der Lage, soziale Strukturen an unmittelbar einklagbaren Grundrechtsnormen zu bemessen. (WIF-DPB, 22-38)
Dem gegenüber sieht Detel zweifelsohne die Notwendigkeit eines Maßstabs, freilich indem er sich um (singuläre) Strukturen bemüht, insonderheit um den Feminismus. Dabei verfehlt er das Allgemeininteresse, bzw. soweit er es berücksichtigt, identifiziert es es mit dem feministischen Interesse; dieses ist für ihn verallgemeinerbar. Ein singuläres Interesse kann aber unmöglich in ein verallgemeinerbares Interesse transformiert werden, da ein singuläres nicht für jedes beliebige Subjekt gelten kann. Diesen Vorwurf habe ich schon Habermas gemacht: Er hält fälschlicherweise den Konsens, gegen Antisemitismus zu sein, für verallgemeinerbar. Doch
“der Konsens, gegen Antisemitismus zu sein, bezieht sich struktur- und gegenstandsbezogen auf ein bestimmtes Volk, die Juden, und ist daher, soll er als gesellschaftsumfassender Konsenswert gelten, gehalten, voll und ganz erst in der abstrakt-definitiven Rechtsmaxime körperlicher Unversehrtheit aufzugehen. Anders ausgedrückt, es ist dummes Zeug, eine konkret einklagbare Idealität – auf die wir uns alle verständigen können müssen, um uns als Gesellschaft zu definieren – gesondert für jedes Volk, für jede Rasse, für jeden Menschen zu formulieren. Sie gilt für alle Menschen, oder sie gilt gar nicht. Analog dazu heißt es in unserem Gesellschaftskonzept:
Habermas übersieht, dass ein Konsenswert wie die ‘Ächtung von Antisemitismus’ keine konstruktiv-gesellschaftliche Wertemaxime darstellen kann, denn sie bezieht sich nicht auf alle Menschen gleichermaßen. Sie ist als Gefühlsdisposition, resp. Gesinnung nicht einklagbar.” (WIF-DPB, 154f)
Detels Fehler liegt wie bei Habermas darin, dass er das Maß, an dem er Strukturen messen will, von eben diesen Strukturen nicht unabhängig begreift, was letztlich in den infiniten Regress führt: in den Struktur- und Prozessfetisch; (WIF-DPB, 31ff) denn für beide Wissenschaftler ist das “Soll” reduktionistisch im “Ist” zu Hause, ohne Aussicht im “Ist” jemals anzukommen. Wiewohl Detel dem Sozialkonstruktivismus und dem Feminismus vorwirft, sich im infiniten Regress zu verlieren, auch wenn er diesen Begriff nicht verwendet: der Sozialkonstruktivismus lehne kategoriale Standards ab, da diese für repressive Machtstrukturen stünden; dadurch käme man aus dem Dekonstruieren (Zerstören) dieser (mit Machtstrukturen korrespondierenden) Standards nicht heraus; weil sie, und das bestreite der Sozialkonstruktivismus nicht, aus pragmatischen Gründen nicht zu vermeiden seien und deshalb immer wieder ins Spiel kämen (DEW-FKA, 288f).
Auf Standards zu verweisen, sich ihnen gleichsam zu unterwerfen, so Detel, sei aber nicht notwendig repressiv. Eine (sinnvolle) Regel zu verstehen und befolgen zu können, sei vielmehr unerlässliche Voraussetzung moralischer Versubjektivierung. Das mag ja sein, aber ist Regelkompetenz hinreichend? Darüber schweigt sich Detel aus. (WIF-C21) Er spricht nur von Notwendigkeiten (im Hinblick auf Möglichkeiten, ohne das Wirkliche, es sei denn spekulativ, im Auge zu haben), u.a. dass ohne gültige Standards nicht kritisierbar sei, was der Sozialkonstruktivismus an sozialen Strukturen generiere. Wie wahr, doch belanglos ohne zureichenden Allgemeinbegriff: an dieser Stelle bringt Detel das singuläre feministische Interesse exemplarisch ins Spiel. Dieser kreise, so Detel, in sich selbst; er reite eine Leerformel, weil er sich unkritisch sozialkonstruktivistisch orientiere: er lebe gleichsam Standards, ohne zu ihnen zu stehen, da sie immer wieder in repressive Machtstrukturen mündeten. Das sehe man daran, dass er biologische Essenzen (weibliche Standardeigenschaften) zur Geschlechterdifferenzierung kategorisch ablehne; in diesem Kontext vertrete er die Auffasung, dass das Geschlecht eine soziale und keine biologische Konstruktion sei. Als biologisch beschreibbare Konstruktion sei das Geschlecht grundsätzlich repressiv instrumentalisierbar und gehöre daher dekonstruiert (bekämpft). Detel sieht hier eine logische Unstimmigkeit: der Feminismus könne nicht sagen, was er will, weil er mit den biologischen Standards sämtliche sozial motivierte Standards schleifen müsse, ein ständiges Konstrukieren und Dekonstruktieren im Laufrad des Immergleichen. Das funktioniere auf Dauer nicht, zumal es biologistische Essenzen zweifelsohne gebe: “Nicht alle, aber nur Frauen werden schwanger und gebären Kinder...” (DEW-FKA, 314), die in das Soziale eingelassen seien und daher das Verhältnis der Geschlechter zueinander spürbar immer mitregulierten, ohne immer gleich repressiv zu sein.
Man kann Detel wohlmeinend wie folgt lesen: so wenig sinnvoll es sei, sich einem dünnen, physikalisch beschreibbaren biologistischen Begriff zu verweigern, der das Verhalten der Geschlechter zueinander gleichsam von Natur aus reguliere, so wenig angemessen sei es, sozial motivierte Standards, in die biologische Essenzen eingelassen seien, zur Regulierung der sozialen wie biologischen Existenz als prinzipiell repressiv zu denunzieren. Schließlich müsse das soziale und politische Interesse, um kritisierbar zu sein, an etwas gemessen werden können, das nicht jeden Tag in Frage gestellt werden dürfe, nur weil da irgendeine biologische Essenz Ärger mache, auch wenn man Änderungen nicht ausschließen dürfe. Kurz und gut, Detel möchte vermutlich sagen, der Feminismus verliere, wenn er nicht aufpasst, das menschliche (Allgemein-)Interesse aus den Augen. Warum nicht gleich so? Ich glaube, dass der Feminismus ein Interesse, das universell auf alle Menschen, Männer wie Frauen, verweist, noch nie im Auge hatte, ebensowenig wie es der Wert, gegen Antiseminismus zu sein, vermag.
Auch ich denke, dass soziale Strukturen sich an etwas messen lassen müssen; doch an was, ohne im infiniten Regress zu landen? Nun, der leerformelhafte infinite Regress endete, wie weiter oben gesagt, bis in die Aufklärung hinein im “Auge Gottes”: Gott war letzte, absolut gültige, nicht mehr hinterfragbare Instanz zur Regulierung der menschlichen Existenz. Nur dass der infinite Regress nicht dadurch aus der Welt zu schaffen ist, dass wir, nachdem Gott endlich tot ist (Nietzsche), nunmehr an “unsere besten Köpfe” glauben, weil es schließlich jemand geben muss, der für “unsere besten evaluativen Standards” verantwortlich zeichnet. Erst spricht Detel sich gegen das “Auge Gottes” aus, durch das auch nach meinem Dafürhalten kein Sterblicher zu schauen vermag, auch Foucault nicht (DEW-FKA, 71), um es im gleichen Atemzug gegen das menschliche Auge zu ersetzen. Ein vollkommen unzureichender Tausch.
Die Kritik geht noch weiter: Die Methode, “beste evaluativen Standards” gleichsam zum Maß aller Dinge zu erklären, um den infiniten Regress zu vermeiden, geht hinter Kant zurück. Kants Leistung bestand darin, dass er das“Wie-man-etwas-sieht” (Theoriebildung) begrifflich von dem trennte, was man sieht (Erfahrungstatsache). Wie man etwas sieht, also mit (wahrgenommenen) Dingen umgeht, sah er präjudiziert durch Vernunft, genauer: in der Fähigkeit, den menschlichen Verstand zu gebrauchen. Der sei theoriegeladen; freilich vorhersehbar (apriori): das, was er hervorbringe, sei nicht zufällig, heute so und morgen anders, nein, er ist eine Instanz zur Verobjektivierung der Sinneserfahrung, wenn man so will: der Gefühle (objektiver Idealismus). Den Beweis sah Kant in den Verstandesbegriffen; in Ergänzung dazu in der Fähigkeit räumlichen Sehens und in Kausalitäten zu denken und zu handeln. Die Konstante Pi ist z.b. als Verstandesbegriff wie folgt zu verstehen:
Sie ergibt sich aus der (räumlich) ins Auge springenden Tatsache, dass die Flächen von Kreis und Quadrat in einem festen Verhältnis zueinander zunehmen oder abnehmen. Dieses Verhältnis ist durch die Konstante Pi (3,14...) in Bezug auf den Kreises und die Konstante 4 in Bezug auf das Quadrat bestimmt – in Abhängigkeit zum Durchmesser des Kreises [Pi*r(Quadrat)], bzw. zur Seitenlänge des Quadrats [4*r(Quadrat)].
Die Konstante π (Pi) zur Berechnung einer Kreisflδche kφnnte man als eine Idee bezeichnen, gegen die wir uns nicht wehren kφnnen, wenn wir einen Kreis in ein Quadrat legen und das Kreis/Quadrat-Verhδltnis rδumlich nur lange genug auf unsere Augen wirken lassen. Hier wirken rδumliches Sehen und Kausalitδtsprinzip ineinender; aus beiden Prinzipien wachsen gleichsam die logisch-mathematischen Verstandesbegriffe heraus, z.B. die Konstante Pi. Alles entspringt apriori: unabhδngig von aller Erfahrung, als fest verdrahtete Methode (Denkfigur), unserem Verstand. Man kφnnte auch sagen, die sinnliche Wahrnehmung (einer Erfahrungstatsache) ist durch Kategorien der Vernunft (logische Denkfiguren) theoriegeladen. Die Vernunft komme nicht umhin, eine Tatsache in den Kategorien Raum und Zeit zu befragen, bzw. darauf, was man mit ihr anfangen kφnne.
Analoges gelte fόr das Soziale (wo kommen wir her, wo gehen wir hin), bzw. fόr die Moral in Gestalt des Kategorischen Imperativs. Auch er existiere apriori, das heiίt er ist wie die reinen Verstandesbegriffe mit der Vernunft fest verdrahtet, so dass der Mensch nicht umhin komme, sich an ihm zu orientieren. Deshalb kφnne er in und fόr uns wirken gegen das absolut Bφse in uns im Sinne sozialer Strukturen (Gut-Bφse-Schema).
All diese apriorischen Prinzipien sind der Fδhigkeit “etwas” (auίerhalb des Erkennenden) zu erkennen inhδrent (wie man etwas sieht); sie sind als Tatsache fest verdrahtet im menschlichen Verstand und das heiίt unabhδngig von der bloίen Wahrnehmungstatsache zu sehen; in dem Sinne, dass der Verstand uns auferlegt, wie wir mit Tatsachen, die uns zustoίen, umgehen, vorausgesetzt, wir haben gelernt, unseren Verstand – das, was in ihm fest verdrahtet ist – zu gebrauchen. Das ist durchaus damit vereinbar, dass die neuronalen Verdrahtungen sich erst durch Gebrauch ausbilden und spδter stabilisieren. Dies vorausgesetzt, verheiίt die Vernunft fόr uns den Weltbόrger in einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft: den ewigen Weltfrieden. Insofern kφnnte man sagen, wir messen das, was wir in der Welt machen, an der Vernunft, gleichsam an uns selbst, als sei der Weltfrieden schon in uns, der Vernunft, enthalten.
Die Vernunft misst sich also an sich selbst, ist Maί und zu Messendes zugleich. Sie, die reine Vernunft, muss und wird uns den Weg in die eigentliche, die reine praktische Vernunft, wie Hφffe immer wieder sagt, weisen. Ja, sie habe es zu Kants Zeit zum Teil schon getan bis in den Adel hinein (aufgeklδrter Absolutismus). Bei und in der Macht mόsse die Vernunft landen, in Gestalt “bester evaluativer Standards”, um als “regulative Macht” (WIF-C21) in und fόr uns alle wirksam zu sein. Kants Liebe und Gehorsam zum Kφnig war echt. So echt wie Heideggers Verehrung fόr Hitler, dem er am liebsten ein paar philosophische Nachhilfestunden gegeben hδtte. Leider kam er nicht an ihn heran; sonst wδre das mit den Juden sicher nicht passiert, mag er sich vielleicht gedacht haben. Kant und Heidegger waren obrigkeitshφrig bis in die Haarspitzen, beseelt von einer schφne Vorstellung, von der Gutmenschen bis heute nicht loskommen. Andernfalls wδre das Phδnomen “Grόne und Joschka Fischer als Kriegstreiber” nicht mφglich. Das ist mφglich, weil unsere “schφnen Vorstellungen” die Rechtfertigung dafόr liefern, sich ins Private zurόckzuziehen und abzuwarten, was die Vernunft in unseren Fόhrern so alles bewirkt, ja bewirken muss, damit sich etwas δndern kann. Ein letzter, δtzender Glaube, schlimmer als der an Gott. Die sogenannte Elite bewegt sich erst, wenn ihnen der Arsch fόrchterlich auf Grundeis geht. Dann ist es aber meist zu spδt, wie die Franzφsische Revolution gezeigt hat.
Und doch ist Kant im Unterschied zur heutigen Elite ein Riese im Denken. Durch ihn ist etwas Neues in die Welt gekommen: Ihm zufolge ist erstmals das “Wie-man-etwas-begreift” als Maί unabhδngig begreifbar von zu messenden Tatsachen (Was-man-begreift), ohne dass jenes Maί auf Gott als Maί “aller Dinge” oder auf Tatsachen-Evidenzen (Descartes) verweisen muss. Analog dazu stehen bei Detel fόr das Wie “unsere besten evaluativen Standards”, in die hinein das Was einzulassen, gleichsam zu όbersetzen sei, um kritisierbar zu sein. Nur dass Detel seine Standards, das Wie, nicht als unabhδngig begreift vom Was, da er nicht umhin kommt, das Wie, resp. seine Standards letztendlich fόr verδnderbar zu befinden, freilich von Menschen, die vom Verδndern etwas verstehen (“unsere besten Kφpfe”).
Da war Kant konsequenter: er begriff das Maί noch wirklich als unabhδngig von zu messenden Tatsachen. Zumindest war er davon όberzeugt, es beweiskrδftig zu tun. Ein letztendliches Maί sieht man bis heute, faktisch in Anlehnung an Kant, in logisch beschreibbaren Verfahrensweisen, im Methodologischen, im Wie, und nicht in etwas gegenstδndlich Fassbarem, das durch eine Parole zum Ausdruck gebracht werden kann:
kein Arbeitszwang,
keine Armut,
körperliche Unversehrtheit;
das heißt in Grundrechtsnormen, die sich gegen alle sozialstrukturellen Bestandsinteressen einklagen lassen. Unserem Verständnis nach können nur noch gegenständlich-einklagbare Grundrechtsnormen dem Anspruch verobjektivierender Universalität genügen; einer Universalität, die sich schon immer dadurch ausgezeichnet hat, dass man sie nicht begründen kann, ohne zugleich ihren universellen Charakter – ihre Fähigkeit, für alle da zu sein – in Frage zu stellen. Keinesfalls leistet dies eine Methode (wie man etwas sieht oder macht) als Ersatz zum (allessehenden) “Auge Gottes”.
Sofern es als Maß “aller Dinge” verwendet wird, verweist das “Wie” aufgrund seiner Begründungsbedürftigkeit nur auf eine Verheißung, die Verheißung menschlicher Vernunft, als Ersatz zur Verheißung Gottes auf ewiges Leben: die Vernuft werde uns in eine menschliche Gesellschaft führen; es komme nur darauf an, diese “richtig” zu gebrauchen. Damit erübrigt sich jede weitere Erklärung (Analyse), wenn etwas schief läuft, denn die folgende auf Kant zurückgehende Erklärung ist immer richtig: der Mensch sei halt aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit noch nicht “richtig” herausgetreten, auf dass sich die Aufklärung in ihrer ganzen Pracht durchsetze.
Das Maß im “Wie” zu verorten, ist m.E. ein entsetzlicher, fast möchte ich sagen: menschenverachtender Optimismus. Dadurch verschiebt sich der infinite Regress (das Maß, das sich nicht findet, weil es im zu Messenden gesucht wird) nur näher zum Menschen hin, ich würde sagen: in den Bereich menschlicher Erfahrung hinein, eine Pseudogrenze, die bemüht ist, eine unbegründbare “Quasi-Universalität” zu begründen, freilich als ewige Aufgabe oder Annäherung, die ihr Ziel nie erreicht, allenfalls symbolisch, bei Kant in der interesselosen Betrachrung eines schönen Kunstwerks, einer Verbeugung vor der schönen Form, der gegenüber jedes Interesse erlöscht. Hier ist, um es mit Hegel zu sagen, der infinite Regress im Kunstgenuss gleichsam aufgehoben.
Aber das Vorhaben ist auch ganz ohne Symbolik absurd: das Unbegründbare begründen; eine Vernunft, die sich selbst begründet (kritisiert), sich selbst zugleich bejahrt und verneint; aber von unseren Logikern dennoch so gemeint: sie postulieren eine Grenze, die sich verschiebt, die sie selbst verschieben; je nach Wetterlage. An dieser Grenze befindet sich zwar nicht mehr Gott als Maß (zu messender Sachen), dafür aber “unsere besten Köpfe”: sie befinden mit Hilfe “unserer besten evaluativen Standards” (Detel), für deren Verschiebung – Findung und Kritisierbarkeit – sie selbst verantwortlich zeichnen, darüber, ob der Verstand richtig oder falsch arbeitet, ob man richtig oder falsch tickt, ob man jemand verstehen kann oder ob er ins Irrenhaus gehört.
Unser Problem möchte ich wie folgt zusammen fassen: Physikalische und soziale Sachverhalte sind bei Kant auf gleichsam natürliche Weise durch die Verstandesbegriffe hindurch beschreibbar, natürlich deshalb, weil sie mit der Vernunft fest verdrahtet sind. Mit anderen Worten: wie die Natur physikalisch zu beschreiben ist, wie wir mit ihr umzugehen haben, wurde uns mit der Muttermilch eingegeben. Kant war überzeugt, dass es sich mit der Moral, sozialen Sachverhalten, genau so verhält; auch sie ist uns in Gestalt eines Prinzips, des Kategorische Imperativs (KI), mit der Muttermilch eingegeben worden. Der KI ist fest mit der Vernunft, in diesem Fall der reinenpraktischen Vernunft, verdrahtet. Der Mensch müsse es freilich wollen, auch gegen seine Überlebensinstinkte, resp. Bestandsregungen sich am KI zu orientieren. Nur dann sei das moralische Verhalten durch den KI regulierbar. Ein Zirkelschluss, es sei denn, der KI ist naturgegeben in der menschlichen Vernunft verankert, einerseits, andererseits wiederum vollkommen wider die menschliche Natur, da die innere Neigung dem KIs nicht gern gehorcht. Das heißt, zur Regulierung sozialer Strukturen postulierte Kant, gegen die innere Neigung, ein WIE: eine universale moralische Methode, und kein WAS im Sinne universal-einklagbarer Grundrechtsnormen. Die interessierten ihn nicht. Er hatte ja auch mit der Todesstrafe keine Probleme. Nicht jeder Mensch verdiene körperliche Unversehrtheit; er war sogar der Meinung, dass die Gesellschaft ohne Todesstrafe nicht auskomme. Im Grunde ist man bis heute bei Kant stehen geblieben. Auch Detel postuliert ein WIE, an dem soziale Strukturen zu messen seien, mit dem Unterschied, dass auch er vermutlich nicht der Meinung ist, das WIE sei fest in der menschlichen Natur verankert. Eine belanglose Differenz, die ihn aber modern erscheinen lässt.
C26.6 Zur Bedeutungstheorie Marxscher Begriffe
Der Verständigungskontext braucht das Missverständniss, das auszuräumen freilich nicht selten als schmerzlich empfunden wird. Und dann rufen schmerzliche Gefühle Bestandsregungen auf den Plan, die regelmäßig dafür sorgen, dass nichts mehr geht. Im Bestreben, sich möglichst unmissverständlich zu äußern, reden Kontrahenten in Diskussionen aneinander vorbei, ohne Chance, sich misszuverstehen, weil sie sich unmissverständlich wähnen; ohne theoretisches Interesse, an leerformelhaften Faktizitäten orientiert, vermögen sie eine Sache und damit den Gesprächsteilnehmer nicht zu berühren. Das gelänge nur mit einer Sprache, die es nicht nötig hat, ihre Theoriegeladenheit zu verhehlen. Man glaubt, es gebe ein Sprechen frei von Theorie, das das Missverständnis auszuschließen vermag. Offen theoriegeladen zu argumentieren, macht angreifbar und schwach. Man verkennt, dass missverständliche Formulierungen das Regelwerk einer Theorie nicht unbedingt in Frage stellen; im Gegenteil, sie sind sogar Vorausetzung ihrer Weiterentwicklung. Wehe dem, der seine theoretischen Weichteile zeigt, der bekommt die Abneigung eines praxisbezogenen und theoriefeindlichen Aktionismus zu spüren.
Oftmals vermag die Theorie sich also nur nicht besser auszudrücken. Ich denke, Sprache ist aufgrund ihrer Theoriegeladenheit defizitär; an ihr klebt buchstäblich das Missverständnis. Ein wunderbares Beispiel für sprachliche Defizite ist die missverständliche Verwendung des Mehrwert- und Eigentumbegriffs bei Marx und Engels (MAK-W25, 903ff; MAK-W23, 648f). Für meine Begriffe ist schon das Denken in den Kategorien des Eigentums an Produktionsmitteln problematisch, zumal gegenstandsbezogen, gleichsam körperlich begreifbar als Eigentum des Staates, bestimmter Gruppen oder einzelner Personen. Ein solcher Eigentumsbegriff ist von Machtpositionen (im Staate) gar nicht zu trennen. Wobei nicht der Staat als vergesellschaftende Instanz, die im Interesse aller Menschen da wäre, das Eigentum braucht. Vielmehr braucht das Eigentum als Herrschaftsinstanz den Staat, der machtversessen alles andere als vergesellschaftet. Schon an anderer Stelle habe ich gesagt, dass Sozialintegration in der Macht nicht aufgeht. (WIF-C21) Über Machtpositionen im Staat werden Eigentumsströme auf Gruppen gelenkt – gegen den Rest der Bevölkerung. Damit das geordnet geschieht (Chancengleichheit), legitimieren sich Gruppen parlamentarisch, in Parteien, Lobbygruppen etc.; auf diese Weise instanziieren Staatsfunktionen – körperlich begreifbar – Eigentumsströme gegen Menschen ohne Zugang zu Staatsfunktionen. Menschen müssen – immer noch – handfest, körperlich sichtbar ausgegrenzt werden, auch wenn Ausgrenzung letztendlich in der Kapitalverwertung begründet liegt: das unvermeidlich Notwendige (Ausgrenzung) muss ausdrücklich gewollt sein und exekutiert werden. Die zwei Stinkefinger von Ackermann, Chef der “Deutschen Bank”, sind kein Zufall. Der macht nur, was ihm das System diktiert.
Ein vergesellschaftender Staat ist ein Widerspruch in sich. Zumindest hat es ihn bisher noch nicht gegeben hat. Daher ist zunächst, im Interesse ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen, nur ein sterbender Staat ein guter Staat. Davon will “Die Linke” nichts wissen. Die nimmt, was sie kriegen kann. Für sie wie für andere Klientelgruppen gehören Staatsfunktionen nur in “richtige Hände”, selbstverständlich in selbstlose Hände – im Zweifel aber dann doch gegen den “freien” Bürger. So naiv waren Linke schon immer, damals wie heute. Man sieht nicht ein, dass der Wechsel von Eigentumstiteln, sei es vom Unternehmer auf den Arbeitnehmer oder den Staat, ähnlich belanglos ist wie die Frage, ob z.B. die Produktion bestimmter Verkehrsmittel zur Mehrwertproduktion beitragen. Eigentumstitel, auf wen und was immer sie verweisen, berühren die Kapitalverwertung nicht im geringsten. Wesentlich sind Rechtsansprüche auf Konsum und Verzehr, also Eigentumsströme, die den Bürger unmittelbar bedienen. Bisher tun sie das nur über den Umweg der Mehrwertfähigkeit, die nicht verifizierbar unmittelbar auf ein Ganzes verweist. Demgegenüber begreifen Wirtschaftsexperten die Verwertbarkeit über den quantifizierbaren Gewinn einzelner Unternehmen und nicht, auf das Ganze zielend, über den Mehrwert. Sie wissen auch nicht zu ermessen, dass der Gewinn, der durch konkrete Strukturen und Funktionen erzielt wird, über die Mehrwertfähigkeit eben dieser Strukturen nichts aussagt. Richtig ist, der Bürger muss in Gestalt des idealen Gesamtarbeiters in der Produktion den Beweis seiner Mehrwertfähigkeit erbringen, um Rechtsansprüche auf Verzehr für sich zu legitimieren. Das erfordert einen auf Macht fokussierten Staat, dem eine vergesellschaftende Funktion nicht zukommen kann.
Der Imperativ der Verwertbarkeit trifft freilich auch den Staat selbst; erst dann zeigt sich, dass er dem Wesen nach keine vergesellschaftende Instanz ist (Bildungsnotstand). Wie der kleine Dienstleistunsangestellte belastet er den Mehrwert und ist daher in die Mehrwertfähigkeit des idealen Gesamtarbeiters einzubeziehen. Doch werden dem Staat Eigentumsströme erst vorenthalten, wenn, wie in Griechenland, gar nichts mehr geht, wenn es mit der Verschuldung nicht mehr weitergeht. Man wird Griechenland oder andere Länder irgendwann in die Pleite gehen lassen, aus dem Euro rausschmeißen, um den Zusammenbruch des Euro längerfristig zu vermeiden. Bis das so weit ist, verselbständigen sich die Staatsfunktionen gegen Gott und die Welt, solange es irgend geht und beim Bürger noch etwas zu holen ist. Dieser Prozess rollt zur Zeit vor unseren Augen ab, völlig unabhängig davon, wem welche Produktionsmittel gehören. Ich möchte es positiv in einem Satz formulieren:
In dem Maße,
wie Eigentumsströme auf alle Menschen zielen,
ohne Ansehen der Person und ihrer Funktion,
werden besitzanzeigende Eigentumstitel belanglos.
Allen würde alles gehören. Das ist ein kommunistischer Satz. Er ist nicht dadurch realisierbar, dass man jedem ein Stück Land oder ein Stück Produktionsmittel gibt, also Eigentumstitel strukturell zuordnet, sondern dass Rechtsansprüche auf Konsum (und Fähigkeiten) für alle gleichermaßen definiert und realisiert werden (“Geld als reale Größe”, WIF-C19), auf dass Individuen sich auf dieser Basis frei in sozialen Strukturen assoziieren können und damit die Voraussetzungen moralischer Versubjektivierung gegeben sind. (WIF-C21)
Freilich benötigen Assoziationen den sprachlichen Kontext, der in der Fähigkeit, sich “über” eine (Tat-)Sache zu äußern, zum Ausdruck gebracht wird. Dabei legen Diskurspartner theoriegeladen “etwas” über eine Sache, das in der Sache selbst nicht aufgeht; sonst würde dieses Etwas unter der Sache begraben werden. Die Sache würde unmittelbar für dieses Etwas stehen. Sie würde zur Hypostase gerinnen: mit uns umgehen, anstatt wir mit ihr. In diesem Sinne kann man sagen, dass wir um Metaphysik nicht herum kommen; sie kommt im Wort “über” zum Ausdruck kommt und verweist auf ein Ganzes im Sinne einer Konstruktion (einer Vorstellung “über” etwas). Analog gilt: im Kontext einer ökonomischen, gleichsam metaphysischen Entität sind betriebswirtschaftliche Faktizitäten (Preise) belanglos, genauso wie es belanglos ist, diese zu gesamtwirtschaftlichen Größen in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) zu aggregieren. Hier vermag das Wort “Gesamt” nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die VGR ihre Existenz nur der einzelwirtschaftlichen Tatsache verdankt, um nicht von ihr loszukommen.
C26.6.1 Geld scheißt Geld; Preis scheißt Preis
Man könnte eine “basale Rationalität”, um einen zentralen Ausdruck von Detel zu verwenden, selbstverständlich auch in Bezug auf ökonomische Vorgänge konstruieren. Sie gründet in der Mehrwertfähigkeit der Arbeitskraft oder, als Alternative dazu, über ihren Preis. Über den Preis scheint alles problemlos verifizierbar, während die Regulierung über den Mehrwert, mehr noch als die Regulierung der Geschlechterbeziehung über physikalisch beschreibbare biologistisch Essenzen, sich hinter dem Rücken der Wirtschaftssubjekte konstituiert. Die Verwertungsfähigkeit der Arbeitskraft steige angeblich in dem Maße, wie ihr Lohn, der Preis ihrer Arbeitskraft, sinke. Das möchte uns auch “Die Linke” weismachen. Das ist natürlich falsch. Der Preis, auch wenn er als Tatsache ins Auge springt, ist völlig belanglos, zumal nicht der Gewinn, den ein Unternehmer aus dem Preis der Arbeitskraft zieht, wesentlich ist, als vielmehr das, was sie im Sinne des idealen Gesamtarbeiters konkret arbeitet. Aber auch darüber zu reden, wäre müßig: die Existenz des Mehrwerts ist weder quantifizierbar, noch ist es sinnvoll, sich Gedanken zu machen, welche konkrete Arbeit Mehrwert generiert, um diesen dadurch wie eine Tatsache zu behandeln. Die Marxsche Theorie setzt die Mehrwertfähigkeit als Abstraktum voraus; sie setzt voraus, dass am Ende des Produktionszyklus’ der Kapitalist in der Lage ist, die produzierten Waren am Markt zu verkaufen. Das ist natürlich eine Fiktion, gegen die die Tatsachen sprechen: Der kalkulierte Gewinn ist oft genug nicht realisierbar, den die Produktion braucht, um zu überleben. Entscheidend ist aber, dass bei einem zu niedrigen Verkaufspreis der Arbeiter nicht das bekäme, was er braucht, um seine materielles Überleben zu sichern. Der Produktionszyklus wäre unterbrochen, allerdings nicht für den tatsachenfixierten Blick; für den wäre alles bestens: Er behandelt den Preis wie eine Tatsache zur bestmöglichen Regulierung der Produktion. Diese reorganisiere sich problemlos, wenn man den sich am Markt “frei” bildenden Preis als Tatsache nur akzeptiere, v.a. was den Preis der Arbeitskraft betrifft. Das ist natürlich eine Fiktion, die freilich durch Tatsachen abgesichert scheint; das um so leichter in einer Zeit eines durch Schulden induzierten Wachstums, in dessem Windschatten die Mehrwertfähigkeit problemlos bis hin zu ihrer Nicht-Existenz auszudünnen vermag. Was nicht heißt, dass sie weiterhin nicht notwendig bleibt.
Die bürgerliche Ökonomie verfehlt prinzipiell den Blick auf das ökonomische Ganze: wie die Tatsache so führt auch die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) eine Ex-post-Existenz. Preise, ob nun aggregiert oder nicht, beziehen sich immer auf etwas, was war und nicht mehr zu ändern ist. Sie sagen nichts darüber aus, was morgen ist. So seht doch, es funktioniere alles bestens, wenn man die Löhne mit Hilfe von Hartz4 noch unten nur freigebe und nicht künstlich, zum Beispiel durch Mindestlöhne oder ewig gezahlte Arbeitslosenhilfe, die sich am zuletzt gezahlten Lohn orientiere, hoch halte. Volkswirte wollen nicht wahrhaben, dass die VGR als aggregierter Preis, der ein Ist-Zustand darstellt, nur mit heißer Nadel gestrickt in die Zukunft projiziert werden kann, auf ein Soll-Zustand hin, selbst dann nicht, wenn es mit Prinzip “Wachstum durch Schulden” noch weitergeht. Man will nicht wahrhaben, dass hinter diesem Prinzip, der Geld-scheißt-Geld-, bzw. Preis-scheißt-Preis-Fetisch steckt. Diesen Tatsachen-erzeugen-Tatsachen-Fetisch bringt Marx zum Ausdruck, wenn er in Bezug auf sich verselbständigende Finanzströme in etwa sagt:
Mehr noch: Markt und Preise sind so belanglos, dass sie sind noch nicht einmal ein Problem sind: Nicht dass man “etwas” marktvermittelt kauft, um zu konsumieren, ist das Problem, zur Ausgrenzung führt vielmehr, dass im Produktionszyklus der Konsum nicht Ende und Anfang zugleich ist, so dass der Konsum die Produktion nicht zu definieren vermag. Am Ende des Zyklus’ ist er an die Bedingung ausreichender Mehrwertproduktion geknüpft als Voraussetzung der Identität von Mehrwert und Produktion. Das zeichnet den Kapitalismus aus. Ohne Mehrwert gibt’s buchstäblich nichts zu fressen völlig unabhängig davon, was die Produktion (als solche) zu leisten imstande ist. So etwas nenne ich Fetisch. Er findet im Kredit seine Fortsetzung, der (in der Zirkulation) dafür sorgt, dass die Verwendung des Geldes an den Mehrwert (in der Produktion) geknüpft ist. Diese Verknüpfung wird dadurch sichergestellt, dass das Geld als Kreditgeld auf die Welt kommt, dazu verurteilt sich als Schuldverschreibung zu bewegen. Das Geld, was wir in unserer Tasche haben, sind die Schulden eines anderen, also nicht real. (WIF-C19) Um reale Wirkung zu erzielen, ist es gezwungen, sich zu vermehren. Dabei muss es freilich in Bewegung geraten, z.B. zum Kaufmann getragen werden. Der Vermehrungsimperativ wird erzwungen durch den Markt- und Konkurrenzmechanismus, dem der Kaufmann (in der Zirkulation) als verlängerter Arm des Produzenten (in der Produktion) ausgesetzt ist.
Und doch ist nicht die Marktkonkurrenz das Problem, sondern dass im Kontext mit dem Marktmechanismus das Geld eine Ware ist wie jede andere, freilich ohne reale Größe zu sein; sie repräsentiert nicht ohne Wenn und Aber einen Rechtsanspruch auf Verzehr. Als fiktive Größe ist sie ausschließlich Teil der Zirkulation und sorgt dafür, dass sich die (reale) Mehrwertproduktion gegen die Produktion, und damit gegen uns alle, ausleben kann. Das umso mehr, je mehr die Geldscheißerei in der Zirkulation (Schuldenwirtschaft) die Mehrwertproduktion belastet, so wie die Produktion von Brücken und Pyramiden dies tun. Verkehr und Dienstleistungen wie z.B. der Friseurangestellte binden Arbeitskraft, ohne Mehrwert zu schaffen. Im Fall sinnloser Pyramiden (Unterbeschäftigung) schöpfen sie ihn gar nur sinnlos ab. Keynes wusste nicht, was er sagte, als er dafür plädierte, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage lieber mit dem Bau von Pyramiden zu beleben, als sie ewig danieder liegen zu lassen.
In Bezug auf den Kredit – das zinstragende Kapital – hat Marx den Fetisch (Geld scheißt Geld) wunderbar auf den Punkt gebracht. Doch warum macht er in Bezug auf den Eigentumsbegriff politische Konzessionen? Vermutlich war Marx aus einer rührseligen Anwandlung heraus dafür, dass die ArbeiterInnen auch mal Produktionsmittel besitzen sollen. Endlich auch mal einfach nur den Rüssel in den Honigtopf halten und saugen. Die Konzession besteht, philosophisch gesprochen, darin, dass Marx das Eigentum körperlich begreift, hypostasierend wie ein lebendiges Ding behandelt, das “etwas” tut mit uns, anstatt wir mit diesem “Etwas” etwas tun. Er verkennt, dass – seiner eigenen Theorie zufolge – im Kapitalismus die realen Ströme nicht unmittelbar und schon gar nicht primär auf Verzehr und Konsum zielen, das heißt der Konsum völlig unabhängig davon, wer die Produktionsmittel körperlich besitzt, nicht zugleich Anfang wie Ende des Produktionszyklus sind. Im 1.Band des “Kapital” kommt dieser Kern seiner Theorie klarer als im 2. und 3.Band zum Ausdruck. Im 3.Band drückt sich Marx an der von Engels interpretierten Stelle (184ff) ziemlich missverständlich aus. Dort wirft er, als er von Arbeitern im Besitz der Produktionsmittel spricht (MAK-W25, 185f), unversehens seine schöne auf den Kredit bezogene Formulierung um, weil er sich den Sozialismus handfest, dem besitzlosen Arbeiter zuliebe, vorstellte. Das politische (Macht-)Interesse (einzelner Gruppen) kontaminiert an dieser Stelle das theoretische Interesse (das auf alle verweist: allen gehört alles).
Hinzu kommt eine generelle Schwierigkeit: Im 3.Band analysiert Marx über weite Strecken – fast möchte man sagen: nur – durch die Brille des Kapitalisten, schon als er zu Beginn auf die Profitrate zu sprechen kommt [m/(c+v)]. Von dort ist der Weg zum Produktionspreis nicht mehr weit. Das ist natürlich legitim. Warum nicht auch mal die Perspektive des Kapitalisten analysieren? Nur wird dabei schnell unterschlagen, dass Arbeiter- und Kapitalistenperspektive sich absolut nicht vertragen. Und dann passiert es auch schon mal, dass man als Leser und Interpret sich unkritisch hypostasierend die (einzelwirtschaftliche) Perspektive des Unternehmers zu eigen macht noch dort, wo Begriffe wie “Wert” und “Mehrwert” – im Unterschied zu Preisen (Produktionspreis) – ausschließlich und von vorn herein auf ein Ganzes verweisen. Über weite Strecken reflektiert Marx das Wert-Preis-Verhältnis. Das darf man aber nicht so verstehen, und Marx versteht es auch nicht so, als ginge es darum, den nicht-verifizierbaren Wert in einen verifizierbaren Preis zu übersetzen; nein, Marx reflektiert den Wert ausschließlich als preisbewegende Kraft, eine Kraft, die nicht quantifizierbar und daher empirisch nicht verifizierbar ist.
Und doch kann man die Stelle im 3.Band (184ff) so lesen, als sei am Ende das Wertgesetz seines konstruktiven Charakters entkleidet. Dabei möchte ich allerdings zu bedenken geben, dass wir es mit dem 2. und 3.Band mit Manuskriptbänden zu tun haben, die nicht von Marx selbst herausgebracht worden sind. Marx konnte sich nie dazu nie durchringen, obwohl sie praktisch zusammen mit dem 1.Band geschrieben wurden. Für mich ist denn auch der 1.Band der entscheidende und maßgebliche Band. Die Herausgabe des 2. und 3.Bandes blieb leider nur Engels vorbehalten.
Was die Perspektive des Kapitalisten betrifft, so ist für ihn Geld und reales Kapital (Arbeitskraft, Maschinen, Hilfs- und Rohstoffe, fertige Waren) ein und dasselbe. Er möchte die Welt glauben machen, dass die Verzinsung “seines” eingesetzten Kapitals eine natürliche Sache sei wie Fressen und Scheißen. Dafür sprechen die ökonomischen Tatsachen: man schaue auf den Preis, resp. auf das, was war, um es in die Zukunft zu projizieren und teile den Preis schließlich tatsachengerecht auf in Kosten-Größen:
Arbeit,
Maschinen
Rohstoffe
Gewinn,
etc.
Der Preis in Gestalt des Erlöses setzt sich aus Preisen (Kosten) zusammen, auf die noch der Gewinn, Preis für Unternehmerarbeit, draufzuschlagen ist. Auf diese Weise wird die Sache ganz einfach: Geld scheißt Geld, Preis scheißt Preis; alles berechenbar auf der Basis verifizierbarer, resp. am Markt realisierter Preise und damit für sich selbst sprechend. Jenseits verifizierbarer Marktgrößen lauert freilich der Mehrwert; als Konstruktion dazu verurteilt, unsichtbar zu bleiben, passt er in keine Rechengröße und treibt daher wie ein Geist sein Unwesen in der Produktion; er sorgt dafür, dass ein Tag nicht ist wie der andere. Plötzlich ist alles ganz anders als zuvor. Ich bürge für eure Spar- und Sichteinlagen!, sagten Merkel und Steinbrück im Herbst 2008. Hat man so etwas schon mal gehört? Allein die bürgerliche Ökonomie verfährt, wenn auch mit schlechtem Gewissen, heute immer noch so, als könne ein Tag wie der andere sein; sie diskutieren die geplatzte Immobilienblase auf eine Weise, als sei sie vermeidbar gewesen. Menschliches Fehlverhalten. Ich kenne keinen, der das nicht tut. Dabei besteht der Beweis, dass die Pleite von Griechenland vermeidbar ist, nur darin, dass Griechenland noch nicht pleite ist. So verfährt der bürgerliche Ökonom, der es eigentlich besser wissen könnte. Er verfährt wie Großbürger Jean im Film “Gabrielle” (WIF-FGL, WIF-DPB, 141): “Seine Welt, wie sie ist, und wie er über sie immer schon fraglos verfügt hat, war ihm immer zukünftige Welt. Was sonst?” Tatsachenfetisch pur.
C26.6.2 Engels - der erste Revisionist?
Was auf das Wertgesetz und den Mehrwert zutrifft, trifft auf die gesamte Kapitalanalyse zu. Sie ist und bleibt eine Konstruktion. Diesen Gedanken hatte schon der deutsche Sozialdemokrat und spätere Revisionist Conrad Schmidt. Mit ihm setzte sich Engels wohlwollend auseinander, formulierte aber zugleich Bedenken gegen seine Auffassung eines fiktionalen Charakters des Wertgesetzes. Das hört sich gefährlich so an, als könne das den wissenschaftlichen Charakter der Marxschen Analyse untergraben. Nicht mit Engels. Hören wir, wie er mit Schmidt umgeht. Er nenne das Wertgesetz, so Engels,
Ähnliche Ansichten entdeckt Engels bei Werner Sombart, auch bei ihm nimmt Engels die Fiktion-These wohlwollend zur Kenntnis. Freilich nur mit einer für meine Begriffe unnötigen Einschränkung: Engels glaubt, nicht weniger als Schmidt und Sombart, als sei, im Unterschied zum Kapitalismus, im Sozialismus alles ganz durchsichtig, das heißt, das Wertgesetz im Sozialismus keine Fiktion mehr, so, als sehe Engels den entscheidenden Fehler im Kapitalismus in einer undurchschaubaren Wert-Preis-Differenz begründet. Auch hier lässt sich Engels zunächst auf einen richtigen Gedanken jenseits des Tatsachenfetisch ein, um ihn ein Satz später, buchstäblich im gleichen Atemzug, wieder umzuschmeißen. Das schließe ich daraus, wie Engels Sombart interpretiert:
Ich glaube, der historische Aspekt, den Engels ergänzend einbringt, ändert nichts daran, dass das Wertgesetz und damit die Marxsche Theorie eine Konstruktion bleiben. Der historische Aspekt mag illustrieren, wie im Zuge der ursprünglichen Akkumulation (MAK-W23, 741ff) sich der Kapitalismus durchgesetzt hat. Das ändert aber nichts daran, dass das Kapitalverhältnis in seiner logischen Form ohne historische Beimischung analysiert werden kann, ja muss, zumal im Interesse seiner Abschaffung. Wie ist das gleichsam technisch möglich? Jedenfalls nicht durch Verstaatlichung oder indem man das Eigentum an Produktionsmitteln auf die Arbeiter, schlimmer: auf die kommunistische Partei überträgt. Was dabei herauskommt, haben wir im real existierenden Sozialismus zur Genüge erlebt.
Auf welche andere Weise Enteignungen stattfinden können und müssen, darüber vermag uns die Geschichte nur wenig, eigentlich gar nichts zu sagen. Diese Lücke versucht Engels mehr schlecht als recht zu füllen, etwas einfältig, wie ich finde: Der Arbeiter müsse in den Besitz “seiner” Produktionsmittel gelangen, damit die Austauschverhältnisse im Sinne der Arbeiter sozialverträglich gestaltet werden können. Dann bekomme der Arbeiter das, was ihm zustehe: den ganzen Mehrwert, der im Kapitalismus leider nur dem Kapitalisten zufließt.
Als bekäme der Arbeiter im Kapitalismus nicht das, was ihm zustehe, um sich selbst zu erhalten. Und als bekäme er in einer zukünftigen sozialistischen Formation mehr. Fest steht, die Kapitalanalyse von Marx setzt voraus, dass die Gesetze der Zirkulation gelten: Nachdem Geld, so Marx, in Kapital verwandelt, d.h. mit Eintritt in den produktionellen Wertbildungsprozess, sind
Das Wertgesetz gilt also uneingeschränkt, das heißt, die Waren werden zu ihrem Wert gekauft und verkauft, unbenommen davon, dass dies in der ökonomischen Realität nicht verifizierbar ist und auch nicht zutrifft. Engels tut, als läge der Fehler darin, dass es nicht zutrifft. Engels versteht den Witz an der Sache nicht: auch wenn sich das Wertgesetz verifizierbar durchsetzen würde, würde sich an der Ausbeutung nicht die Spur etwas ändern. Derweil macht Engels den Eindruck, als müsse es mit dem Austausch alles nur seine Ordnung haben. Er möchte das Wertgesetz zu einer quasi-verifizierbaren, resp. beweisbaren Tatsache machen. Dies seine Vision für einen späteren Sozialismus. Nicht dass das Wertgesetz grundsätzlich nicht verifizierbar ist, nein, es sei durch die Einführung des Metallgeldes und erst recht durch den voll ausgebildeten Kapitalismus verdunkelt. (MAK-W25, 909) Im Sozialismus würde sich dann alles wieder, wie in urkommunistischen Zuständen, ganz schnell aufhellen. Die Arbeiter müssen nur erst in den Besitz der Produktionsmittel gelangen. Dann würde alles ganz schnell gerecht ausgetauscht. Dann erst sei fairer und transparenter Tausch möglich: gerechter Lohn für ein anständiges Tagwerk. Dann würde die Marxsche Theorie in vollem Licht erstrahlen. Völker! Wollt ihr ewig arbeiten? So hört doch endlich die Signale!
Auch wenn Marx mit missverständlichen Formulierungen beteiligt ist, so möchte ich dennoch sagen, dass Engels im Nachwort zum 3.Band des “Kapital” den Kern Marxscher Analyse mit Gewalt missversteht. Damit das mit der “sozialistischen Empirie” im Hier und Jetzt, im Kapitalismus, schon klappt, interpretiert er Marx im Widerspruch zu dem, was die Theorie im Kern ausmacht und wird bei Marx selbst fündig. Wie auch nicht bei über 2000 Seiten geballter Theorie? Die entscheidende Stelle fände sich, so Engels, bei Marx:
“Die ganze Schwierigkeit kommt dadurch hinein, dass die Waren nicht einfach als Waren ausgetauscht werden, sondern als Produkte von Kapitalien, die im Verhältnis zu ihrer Größe, oder bei gleicher Größe, gleiche Teilnahme an der Gesamtmasse des Mehrwerts beanspruchen.” (MAK-W25, 184f)
Diese wenigen Zeilen interpretiert Engels wie folgt:
Ein merkwürdiger (bürgerlicher) Gerechtigkeitsbegriff, den Engels hier transportiert, der darin zum Ausdruck kommen soll, dass die ArbeiterInnen ihre aufgewandte Arbeitszeit zu gleichen Teilen tauschen: “Beide Arbeiter erhielten also (...) gleiche Werte.” Dabei ist genau dies völlig belanglos, bzw. definitiv nicht realisierbar; erst recht nicht im Sozialismus. Nicht für Engels: es werden Äquivalente getauscht; das setzt die Marxsche Analyse voraus, nur voraus, muss man sagen. Geht nicht, für Engels hat sich die Theorie zu benehmen und gefälligst wie eine Tatsache in der ökonomischen Praxis aufzugehen. Was in der Theorie vorausgesetzt ist, möchte Engels als (Tatsachen-)Ergebnis abfeiern, schlimmer: als Vision einer zukünftigen Gesellschaft. Damit hat er die SPD und alle sozialistischen Bewegungen entscheidend in einen Revisionismus getrieben, über den er sich zusammen mit Marx, als dieser noch lebte, immer wieder bitter beschwerte.
Liest man freilich den Absatz, aus dem das obige Marxzitat stammt, zu Ende, wird vielleicht klarer, dass sich Marx hier mit dem Preisfetisch der bürgerlichen Ökonomie auseinandersetzt. Diese zusätzlichen Zeilen erwähnt und interpretiert Engels wohlweislich nicht in seinen Ausführungen:
Es geht hier also um die Zusammensetzung des Kapitals, um unabänderliche Preis-Faktizitäten, nicht um die Entstehung des Kapitals.
C26.7 Die Sprache klebt am Gegenstand
Missverständnisse kommen bei Engels auch durch Sprache zustande. Wie Marx spricht er von “Neuwert” und nicht von “Wert”, der der Ware hinzugesetzt werde. Fest steht: lebendige Arbeitskraft fügt der Ware Wert hinzu. Selbst dieser Ausdruck ist missverständlich interpretierbar. Denn streng genommen ließe sich das auch von der Maschine behaupten (was leider bis heute unkritisch passiert): sie fügt der Ware den Wert hinzu, der in ihr als Wert enthalten ist und während ihrer Laufzeit abgeschrieben wird: Mit dem variablen Kapital “v” (lebendige Arbeitskraft) ist es ähnlich. Sie musste, wie die Maschine, zuvor hergestellt werden. Das heißt, der Arbeitskraftaufwand “v” überträgt wie das konstante Kapital “c” (Maschinen) exakt den Wert, der zu seiner Herstellung (Erziehung, Ausbildung) und ständigen Reproduktion (essen, trinken, wohnen, etc.) notwendig ist, auf die zu produzierende Ware.
Was Engels und Marx mit dem Wort “Neuwert” vermutlich meinen, ist, dass die lebendige Arbeitskraft zusätzlichen Wert über den Arbeitskraftaufwand “v” hinaus, also Mehrwert (m), zu produzieren vermag, und zwar dadurch, dass der Arbeiter länger zu arbeiten vermag als zur Herstellung und ständigen Wiederherstellung seiner Arbeitskraft “v” notwendig war und ist. Das ist der Mehrwert, den Marx im 1.Band des “Kapital” missverständlich mit dem Ausdruck “unbezahlte Arbeit” gleichgesetzt hat. (MAK-W23, 648f) Doch im Unterschied zur lebendigen Arbeitskraft verbraucht sich die Maschine ausschließlich, bis sie ihren Geist aufgibt. Läuft sie länger, z.B. 24 statt 12 Stunden, verbraucht sie sich nur schneller, – absolut unfähig, der Ware mehr Wert hinzuzufügen, als selbst in ihr steckt. Anders die lebendige Arbeitskraft. Sie arbeitet, sagen wir einen halben Tag, um sich zu (re-)produzieren, und einen weiteren halben Tag (länger) für den Mehrwert “m”. Damit hat sie länger und “mehr” (m) gearbeitet als sie selbst an Wert verbraucht (v). Das kann die Maschine nicht. Sie kann sich nur verbrauchen: ihren Wert übertragen. Das ändert nichts daran, dass “v” nur und genau den Wert repräsentiert und – wie die Maschine – auf die zu produzierende Ware überträgt, der nötig ist, um die Arbeitskraft zu (re-)produzieren. Eine von Marx ganz bewusst inszenierte Tautologie: v = v, die ohne das verifizierbare Preisfaktum auskommt. Den Preis aus Preisen abzuleiten und, als Einzelpreis, aus dem Marktgleichgewicht heraus zu bestimmen, ist zwar nicht weniger tautologisch. Doch vermag sich die Tautologie hinter der Quantifizierbarkeit des Marktmechanismus’ zu verstecken, der mathematisch als Schnittpunkt von Angebots- und Nachfragekurve zum Ausdruck gebracht werden kann. So mag es scheinen, dass der Wert einer Ware nicht durch realen Arbeitskraftaufwand, sondern durch die Kraft des Bedürfnisses, die in der Nachfragefunktion zum Ausdruck kommt, bestimmt werde. Dass, um ein Bedürfnis zu befriedigen, zuvor gearbeitet werden muss, wird einfach vorausgesetzt. Doch das interessiert nicht; man setzt lieber hypostasierend auf den Augenschein. Dieser wird durch sichtbare Preisbewegungen nach oben oder unten bei steigender oder sinkender Nachfrage bestätigt. Damit gab sich Marx freilich nicht zufrieden:
Engels umarmt mit seinem Lapsus ungewollt die bürgerliche Ökonomie, die er ansonsten ziemlich verächtlich behandelt: Nicht nur dass die bürgerliche Ökonomie aus durchsichtigen Interessen quantifizierbaren Gewinn und nicht-quantifizierbaren Mehrwert gleichsetzt, – sie legt darüber hinaus, wie aus dem Marxzitat hervorgeht, den Akzent der Analyse auf Preisbildungsvorgänge am Markt, und darauf, dass und wie, aus welchen Faktoren, sich Preise zusammensetzen: aus Gewinn, Arbeit, Maschinen, Grund und Boden, etc. Das Interesse ist durchsichtig. Alle eingesetzten Faktoren beanspruchen, weil sie etwas “kosten”, also Werte enthalten, ihren Anteil am Erlös (Preis). Eine Tautologie: im Preis ist etwas enthalten, was seinen Preis hat, genauer: mehrere Preise, identifizierbar als Marktgrößen und aggregierbar zu gesamtwirtschaftlichen Größen (VGR).
Der Ausdruck “die Ware setzt sich zusammen aus...” ist das Problem. Damit scheint aus der Perspektive des Kapitalisten alles in bester Ordung. Die Spuren der Ausbeutung werden, wie Marx nicht müde wird, immer wieder zu sagen, verdunkelt, wenn nicht sogar zum Verschwinden gebracht durch verifizierbare Preisgrößen, durch etwas, was man sieht. Also gibt es keine Ausbeutung. Und dann lässt sich ein Mindestlohn errechnen, der nötig ist, um davon zu existieren. Ja, das Rechnen und ein wenig Logik haben wir alle drauf. Auf dieser Basis reduziert man die Abschaffung der Ausbeutung auf einen anständigen Lohn (Preis), der verifizierbar vom Gewinn (Maschinen-Preis) oder anderen Produktionsfaktoren (Preis für Grund und Boden) abgeht. Das scheint nur zu natürlich, zumal derunsichtbare Wert sich in der Perspektive des Unternehmers zum sichtbaren Produktionspreis verwandelt. Engels macht daraus im Sinne des sogenannten realexistierenden Sozialismus einen sozialistischen Produktionspreis, selbstverständlich nachdem die kommunistische Partei und später der von ihr eroberte Staat die Produktionsmittel besitzen, stellvertretend für die ArbeiterInnen, versteht sich. Wie die DDR-Kommunisten, so neigte schon Engels damals dazu, den Kapitalismus auf Moral, einen anständigen Lohn, zu reduzieren und brachte ihn damit de facto – als Ganzes betrachtet – aus der Schusslinie. Um nicht zu sagen: der Revisionismus bekam durch Engels seine unangreifbare Weihe. Das wollten die Kommunisten nach Marx, einschließlich Rosa Luxemburg, nicht wahrhaben, oder sie begreifen es nicht.
Das Problem, das wir im Kontext von Wert und Mehrwert diskutieren, ist also eines der Perspektive, wie man “etwas” sieht, eine Angelegenheit der Interpretation und daher letztendlich auch ein sprachliches Problem. Immerzu steht die Frage im Raum: sagen wir das, was wir meinen und meinen wir das, was wir sagen? Man könnte Engels mit guten Gründen so interpretieren, dass er “m” (Mehrwert) und “v” (Wert der Arbeitskraft) in einen Topf wirft, mag sein versehentlich, durch sprachliche Unachtsamkeiten; vielleicht meint Engels gar nicht das, was er sagt. Das ändert aber nichts daran, dass er von vielen am Kern der Marxschen Analyse vorbei gelesen wurde und bis heute wird.
Mehrwert (m) und variables Kapital (v) in einen Topf zu werfen und obendrein so zu behandeln, als wäre ihr Verhältnis zueinander (m/v) einer quantifizierenden Bestimmung zugänglich, ist allerdings ein schlimmer Lapsus, der sich sprachlich vielleicht dadurch einschleicht, weil beide Komponenten, v und m, durch lebendige Arbeitskraft produziert werden. Es ist aber völlig belanglos, ob ein bestimmter Arbeiter Mehrwert produziert oder nicht, oder ob er in der Lage ist, sich durch seine Arbeitskraft selbst zu erhalten oder nicht, wie viel “m” er im Verhältnis zu “v” produziert. Für die Marxsche Kapitalanalyse ist nur wichtig zu wissen, dass der Kapitalismus (als Ganzes) auf Dauer den Mehrwert braucht wie der Teufel das Weihwasser. Für eine zukünftige alternative Ökonomie wird es darauf ankommen, dass ausbleibender Mehrwert keine existenzbedrohlichen Auswirkungen mehr nach sich zieht, und dass die Fähigkeit der Gesellschaft, mehr zu erzeugen, als sie selbst verbraucht, sich nicht mehr gegen gegen die Gesellschaft, gegen uns, richten kann. Streng genommen zeichnet sich eine alternative Ökonomie dadurch aus, dass sie zwar in der Lage ist, mehr zu produzieren als sie verbraucht; dennoch muss sie es nicht zwingend tun. Das Perverse: erst nachdem es wieder genügend abwärts mit der Wirtschaft gegangen ist, wird wieder genügend Mehrwert produziert, so dass es wieder aufwärts gehen kann. Nach unserem Dafürhalten ist aber einer stationärer Zustand durchaus möglich oder sinnvoll, dass wir nämlich, ohne zu wachsen, genau das produzieren, was wir auch verbrauchen. Der Kapitalismus hingegen kann sich einen stationären Zustand nicht leisten; er setzt zwingend die Mehrwertproduktion voraus, nämlich das, worauf sich die Gesellschaft einer alternativen Ökonomie explizit und zwanglos verständigen könnte. Nicht der Mehrwert (Mehrprodukt) als solcher ist schlimm. Schlimm ist nur, dass im Kapitalismus Mehrwert zwanghaft und unkontrolliert produziert werden muss (Wachstumsfetsich) und sei es bei abnehmender Produktion. Das geht bis zu einem Punkt, wo wir die Grundversorgung (Wasser, Energie, wohnen, essen, Bildung, Gesundheit, Rente) gefährden, nur damit es irgendwann mit der Mehrwertproduktion wieder aufwärts gehen kann. Früher fühlten sich Unternehmer wie Robert Owen noch persönlich verantwortlich für die Grundversorgung ihrer ArbeiterInnen. Darin sahen sie die Bedingung ihres eigenen Gewinns. Heute ist die Grundversorgung vielfach auf den Staat übertragen worden oder in der Hand spezieller Konzerne. Sie ist anonymisiert worden. Was kümmert es die Telekom oder BASF, ob die Wasserversorgung noch funktioniert oder wie die Menschen wohnen oder ob Rentner noch was zu fressen bekommen oder ob Menschen noch zum Arzt gehen können. Mehr noch, das alles steht in unserer heutigen Gesellschaft zur Disposition, weil BASF und VW weiter wachsen müssen. Das bekommen immer mehr Menschen immer schmerzlicher zu spüren.
C26.8 Herrschende Orientierungslosigkeiten
Noch einmal, zum Mitschreiben: dass der Kapitalismus keinen Mehrwert produziert, ist nicht nachhaltig, aber zeitweise möglich. Produziert er keinen Mehrwert, so kann das, wenn auch nicht dauerhaft, durch ein Leben auf Pump verschleiert werden (WIF-C24). Dabei ist es völlig gleichgültig, ob der Staat oder die “privaten” Wirtschaftssubjekte sich immer weiter verschulden. In jedem Fall leben wir, wie der Neoliberale so schön sagt, über unsere Verhältnisse. Mit dieser Redewendung erweckt er den Anschein, als wäre die Wirtschaft nicht in der Lage, das zu produzieren, was die Wirtschaftssubjekte, Produzenten und Konsumenten, verbrauchen, um zu überleben. Das kann, siehe England und Griechenland, ohne weiteres passieren: Wenn’s abwärts geht, werden, wenn auch nicht überall in gleicher Weise, Strukturen vernichtet, und zwar umso nachhaltiger und unwiderruflicher, je mehr die Abwärtsspirale durch ein Leben auf Pump aufgehalten und damit verschleiert wird.
Oder man macht es wie England: man ersetzt vernichtete Produktionsindustrien durch Finanzindustrien, die nichts tun, als Schulden (für andere) zu verwalten und zu vermehren. Da ist England in der Tat ein besonders schönes Beispiel für nachhaltig vernichtete Strukturen. Mittlerweile haben die Engländer mit ihrer ehemals so einträchtigen Finanzwirtschaft ihre Wirtschaft buchstäblich in den Abgrund geritten. Nunmehr reiten sie einen knochenmagerer Esel, der zu keinem Schritt mehr zu bewegen ist. Vollständig entindustrialisiert, ist ihre Wirtschaft zu schwach, sich selbst zu ernähren. Das sie von anderen ernährt werden müssen, wollen die Engländer freilich nicht wahrhaben. Und wir wollen nicht wahrhaben, dass wir sie ernähren müssen. Gebetsmühlenhaft sprechen alle vom Sparen und Konsolidierung der Staatsfinanzen, als wäre das noch möglich und als würden damit zugrunde gerichtete Produktionsstrukturen wieder auferstehen. Auch Keynesianer wie Professor Peter Bofinger reagieren auf die Schuldenkrise völlig phantasielos (BOP-GRI), desgleichen linke Zeitungen wie “Der Freitag”, wenn dieser in der Ausgabe vom 25.03.2010 sich auf ihn und Heiner Flassbeck als Alternative zum Neoliberalismus beruft:
Mein Gott, haben die tatsächlich keine anderen Sorgen? Natürlich, nicht überall sind die Strukturen so nachhaltig vernichtet wie in England. Bei uns geht vielleicht noch ein paar Jahre gut. Schulden sagen über Stärke oder Krankheit einer Volkswirtschaft zunächst einmal nicht viel aus. Ein “Leben über unsere Verhältnisse” ist unabhängig davon möglich und notwendig, was die Produktion in der Lage ist zu produzieren. Es ist freilich nur eine Frage der Zeit, dass z.B. auch in Deutschland oder Frankreich Strukturen im Windschatten wachsender Schulden vernichtet werden. In England ging es Dank Thatcher und Blair nachhaltig und vor unserer Zeit. Mit ein bisschen Glück hätten es Schröder, Merkel und Steinbrück auch bei uns geschafft. Sie waren auf dem besten Wege, es den Engländern gleichzutun. Vorerst hat ihnen die geplatzte Immobilienblase einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sonst hätten die Heuschrecken auch in Deutschland irgendwann nichts mehr übrig gelassen. Was noch nicht ist, wird aber in Zukunft immer schneller kommen durch wachsende Schulden, für die wir alle einstehen müssen, egal woher sie kommen, ob nun durch uns, Griechenland oder England. Heute ist nicht mehr zu leugnen, dass nichts mehr hilft, weder sparen, mehr ausgeben.
Auch steigende Löhne als flankierende Massnahme zur Finanz- und Steuerpolitik werden nicht weiterhelfen. Auch die Keynesianer bewegen sich ausschließlich in diesem Fahrwasser. Wie die Neoliberalen sind sie unfähig oder nicht willens, das “Ganze”: die Systemfrage zu diskutieren. Sie realisieren nicht, dass sie die Probleme auch dort im einzelwirtschaftlichen Kontext analysieren, wo sie gesamtwirtschaftlich argumentieren, Bofinger wie Merkel. Und der Freitag glaubt tatsächlich, als träfe dies nur auf Merkel zu, wenn er in die Welt hineinruft:
Für alle Volkswirte existieren Schulden nur aus einem Grund, den wir aus unserer privaten Alltagserfahrung kennen: ich fresse zu viel gemessen an meinem Einkommen. Diesen einzelwirtschaftlichen Sachverhalte übertragen Volkswirte problemlos auf eine ganze Volkswirtschaft, ein Realitätsverlust, der gelegentlich auch nackte Tatsachen übersieht. Diese besagen, dass Überschuldung auch ein Symptom volkswirtschaftlicher Stärke sein kann. Kalifornien z.B., die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt, ist pleite; nicht weil sie schwach ist, sondern aufgrund wirtschaftlicher Stärke, die sich nicht entfalten kann, weil sie ihre Produktion um sich herum nicht mehr absetzen kann. Dort hängen zu viele wert-lose Menschen herum, solche, die keinen Mehr-Wert mehr produzieren. Gleiches gilt für große Volkswirtschaften wie Japan oder Europa und bald auch für das Musterländle China, wenn deren Exportmotor irgendwann ins Stocken gerät. (WIF-C24) Kurzum, wir reiten die Welt ökonomisch zu Tode.
Der Kern des Übels besteht darin, dass wir mit Analysen im einzelwirtschaftlichen Kontext Handlungsalternativen hervorbringen (sparen, verschulden, steigende, sinkende Löhne), die keine sind. Auch steigende Löhne in Deutschland bringen Europa nicht weiter. Steigende Löhne mögen die Binnenkonjunktur beleben und Exportüberschüsse zurückführen im Interesse anderer Länder, die über ihre Verhältnisse leben. Doch damit ist nicht sichergestellt, dass die Engländer oder Griechen mehr nach Deutschland exportieren können. Sie werden es nicht können, weil ihre Strukturen es nicht (mehr) hergeben. Wer jahrelang nur heiße Luft produziert, wie die Engländer, oder gar nichts produziert, wie die Griechen, der kann auch nicht exportieren. Am Ende exportieren die Deutschen weniger, aber die Chinesen oder Inder dafür umso mehr nach Europa, insonderheit nach Deutschland. Zum Nachteil von Europa. Keinem Land wäre gedient. Das befreifen Leute wie Gysi, Lafontaine, Bofinger und Flassbeck nicht, wenn sie für eine Stärkung der Binnennachfrage durch höhere Löhne plädieren.
Das bedeutet natürlich nicht, dass sinkende Löhne die Lösung sind. Wenn nichts mehr geht, müssen wir das System insgesamt in Augenschein nehmen. Man darf die Augen nicht vor der Möglichkeit verschließen, dass wir es mit einem Problem des Systems zu tun haben könnten, das uns in Gestalt ihrer Verteidiger gebetsmühlenhaft mit Alternativen konfrontiert, die nicht weiterführen. Fest steht, es werden vor unseren Augen Strukturen zerstört, ohne durch gleichwertige Strukturen ersetzt werden. Im Gegenteil, wir sind zunehmend von Ländern umgeben, die sich aus eigener Kraft nicht mehr ernähren können und dadurch noch intakte Strukturen in Mitleidenschaft ziehen. Wobei insgesamt gar nichts intakt ist, wenn eine Volkswirtschaft ihre sogenannten intakten Strukturen auf der Basis von Exportüberschüssen sicherstellt und damit die Welt insgesamt krank macht. Deutschland hat absolut keinen Grund, sich gegenüber Engländern und Griechen aufzublasen. Die Mienen der Politiker sprechen auch eine andere Sprache; sie fühlen sich mit ihren Worthülsen und Durchhalteparolen sichtlich immer weniger wohl. Nur die Linken schauen zusammen mit der nicht weniger einfältigen FDP immer noch aus, als könnten sie vor Kraft nicht laufen.
C26.8.1 Rassismus und Volksverhetzung
Zu wachsender Armut, gepaart mit systematischer Orientierungslosikeit gesellen sich irgendwann zwangsläufig Rassismus und Volksverhetzung gegen Minderheiten. Ab 1929 waren es im Vorfeld der nationalsozialistischen Machtergeifung Juden und Vaterlandsverräter, gegen die Hugenberg und Hitler hetzten, heute sind es Leistungsschwache, die mit Unterstützung von Hartz4 die Leistungsträger belasten. Die Hartz4-Empfänger würden unsere Gesellschaft zugrunde richten, wenn sie sich gegen die Leistungsträger vermehren würden, so Gunnar Heinsohn, Professor für Sozialpädagogik in Bremen, in einem FAZ-Gastkommentar zu Hartz IV: “Sozialhilfe auf fünf Jahre begrenzen”. (HEG-GH4) Für mich ist das Rassismus und Volksverhetzung. Ich finde, man muss die Allgemeinheit vor solchen Menschen in Schutz nehmen. Der Typ gehört vor Gericht. Rudolf Stumberger kommentiert den Text von Heinsohn wie folgt:
C26.9 Der Tatsachenfluch
Doch das nur am Rande. Während Professor Heinsohn Volksverhetzung, interessieren wir uns, was eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre, für die Analyse des Ganzen. Eine solche setzt zwingend voraus, die einzelwirtschaftliche Perspektive zu verlassen. Und das führt uns zurück zur Mehrwertproblematik. Diese verweist nicht auf Sündenböcke: einzelne ArbeiterInnen oder Kapitalisten, und erst recht nicht auf einzelne Hartz4-Empfänger, Rentner oder Unterbeschäftigte, so in der Art: sie alle fressen uns die Haare vom Kopf. Obwohl sie in der Tat keinen Mehrwert produzieren. Doch Mehrwert produzieren Professoren wie Heinsohn auch nicht; sie schöpfen ihn ab. Das geschieht freilich alternativlos, weil im Sinne der Kapitalverwertung die “überflüssigen Fresser” einen erheblichen Teil der Nachfrage ausmachen, die kreditinduziert aufrecht erhalten werden muss, soll nicht “alles” zusammenbrechen. Allein unsere Rentner werden zur Zeit mit 80 Milliarden €, das ist ¼ des Bundeshaushalts, alimentiert. Hinzu kommen eine Unzahl weiterer Sozialtransfers wie Kindergeld, Wohngeld, Hartz4, Arbeitslosengeld etc. Der Sozialetat macht locker über 50% aller Haushaltsmittel aus, Tendenz steigend. Der Kapitalismus kann es sich aber aus systeminternen Gründen nicht leisten, auf “überflüssige Fresser” zu verzichten. Arrmen Menschen die Unterstützung zu verweigern, um sie stattdessen in Gefängnissen zu entsorgen, ist also ökonomisch kontraproduktiv und daher kriminell. Und dennoch passiert es nach und nach.
Das Ganze im Blick zu haben, bedeutet: es ist belanglos, wer wie viel Mehrwert produziert. Freilich möchte der Tatsachenfetisch den Mehrwert entlang empirisch wahrnehmbarer Tatsachen quantifizieren. Diese existieren wahrnehmbar auf der Grundlage des Ursache-Wirkungs-Prinzips. Der Fetisch glaubt an die analytische Kraft des unmittelbaren Ursache-Wirkungs-Prinzips. Durchaus mit guten Gründen. So wie auch Heinsohn überzeugende Tatsachen beibringt: Zuwenig Mittelschichtskinder, zu viele Unterschichtskinder. Dagegen müsse gehandelt werden, indem man auf die Tatsache Einfluss nimmt und nicht darauf, worin diese sich ganzheitlich involviert ist. Auch Welt-Online-Autorin Dorothea Siems setzt ähnlich wie Heinsohn, freilich ohne volksverhetzende Terminologie, ausschließlich darauf, Tatsachen zu traktieren, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie dem Heinsohn Tatsachen-Argumente liefert für seine rassistischen und volksverhetzenden Tiraden, z.B. wenn sie sich Gedanken über das Wegbrechen der Mittelschicht macht und fragt, warum die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandergehe. Warum das so ist, beantwortet sie anhand verifizierbarer ökonomischer Tatsachen wie folgt.
Nur dass viele Leistungsträger der Mittelschicht, z.B. Lehrer, Professoren und Journalisten, zur Mehrwertproduktion nichts beitragen, sie mögen noch so viel Steuern zahlen. Mehrwertproduktion findet, wenn überhaupt, vornehmlich in der Industrie statt, während die meisten Staatsdiener genauso wenig wie Rentner und Unterbeschäftigte zur Mehrwertproduktion auch nur das geringste beitragen. Diejenigen, die das glauben verwechseln Gewinn und Mehrwert.
Nehmen wir einen Lehrer: er trägt zur Mehwertproduktion nichts bei, sondern schöpft Mehrwert ausschließlich ab. Überhaupt profitiert der ganze Dienstleistungssektor ähnlich wie der Finanzsektor von der Mehrwertproduktion, ohne einen Beitrag für sie zu leisten. In Griechenland oder England findet Mehrwertproduktion nicht mehr statt, ohne dass ihr Ausbleiben durch weitere Schulden verschleiert werden kann. Für beide Länder geht’s abwärts im Sinkflug. Andere Länder werden ihnen folgen und auch uns in Mitleidenschaft ziehen, und zwar so lange, bis wir wieder einen Punkt erreicht haben, ab dem Mehrwert wieder produziert. Dieser gnadenlose Zusammenhang ist durch Leistung, wie sie Sloterdijk aufzubringen vermag, nicht aus der Welt zu schaffen. Das kapiert er nicht. Im Gegenteil, dort wo die Fakten eine immer deutlichere Sprache sprechen in Bezug darauf, wie das “Ganze” zu interpretieren ist, lässt er das “Philosophische Quartett”, den Eisberg in Sichtweite, noch einmal kräftig aufspielen, während er seine Spieler anhält, eine Analyse des Stückwerks zu zelebrieren. Er verweigert sehenden Auges den Blick auf das viele Eis unter der Wasseroberfläche. Das, was ich nicht sehe, nicht sehen kann, gibt es nicht, so einen in der Welt der ökonomischen Tatsachen nicht verifizierbaren Mehrwert.
Nun, und wenn der Mehrwert keine wohlabgrenzbare Sache ist, die sich anfassen und verorten, sich gegenständlich bewahrheiten lässt, kann er auch nicht etwas sein, was der Kapitalismus (in Gestalt eines einzelnen Kapitalisten) dem Arbeitnehmer wohldefinierbar vorenthalten kann. Auch wenn Marx immer wieder von “unbezahlter Arbeit” spricht (WIF-C24), die der Kapitalist einstreiche, so darf das nicht so interpretiert werden, als würde dem Arbeitnehmer etwas vorenthalten. Die gesamte Theorie von Marx gibt das nicht her. Das Problem ist, wie weiter oben erwähnt, ein sprachliches, eine Sache der Interpretation: unglücklicherweise klebt die Sprache an Sachen, dazu verdammt, “etwas” bedeuten zu müssen, was in der Welt der Fall ist. Und dennoch ist das Zeichen im Kontext einer größeren Zeichengemeinschaft stets mehrdeutig und damit missverständlich. Wie auch nicht? Schließlich muss ein endlicher Wortschatz in der Lage sein, unendlich viel zum Ausdruck zu bringen. Auf dieser Grundlage müssen sich Menschen verständigen. Vermutlich ist es genau das, was die Bedeutungstheorie von Donald Davidson uns sagen möchte:
Dass die Marxsche Theorie der Interpretation bedarf, ergibt sich aus der Notwendigkeit, sie für den Leser in Wort und Schrift darzustellen: ein Ganzes, den Kapitalismus, illustriert an ökonomischen Einzel-Beispielen (Kapitalist versus Arbeiter). Der Fluch besteht darin, dass die (einzelnen) Dinge etwas (gegenständlich) bedeuten müssen, koste es, was es wollen; andernfalls könnte sie kein Mensch verstehen. Menschen wären nicht in der Lage, eine Sprache zu lernen, sich (über etwas) zu verständigen, mithin sozial zu integrieren. Im Missverständnis steckt eine Menge Wahrheit. Wir brauchen die Chance, Marx misszuverstehen, um ihn zu verstehen. Das darf freilich nicht dazu verführen, die Marxsche Theorie an verifizierbaren einzelwirtschaftlichen Tatsachen orientiert zu interpretieren, wie es alle Ökonomen geradezu zwanghaft machen.
Letztlich geht es aber nicht mit einzelne Kapitalisten, die einzelnen oder einer Schar von Arbeitern gegenüberstehen, sondern es geht, radikal gesprochen, um den idealen Gesamtkapitalist, der dem Gesamtarbeiter – also auch den Nicht-Arbeitenden (ohne Erwerbseinkommen) – gegenübersteht. Der Gesamtarbeiter repräsentiert in letzter Instanz das, was man heute die Gesamtgesellschaft im Sinne eines voll ausgebildeten Kapitalismus nennt, eine Gesellschaft, die sich de facto über den Mehrwertmechanismus, also technisch ökonomisch, versteht und nicht, wie alle glauben, moralisch-sozial. Das Moralische wird einfach – gleichsam belanglos – dem gesellschaftlichen Körper appliziert, das heißt, ohne ihn substanziell zu berühren. Und doch geht es immer um das kollektive Ganze, dessen Teile aber in sich nicht auf ein (moralisches) Ganzes hin orientiert sind. Zumal die Aneignung des Mehrwerts privat ist und, ganz wichtig, im Kapitalismus auch nur privat möglich ist. Die analytische Betrachtung verweist freilich auf Kollektives und kommt nicht umhin, sich an dieser Stelle zu widersprechen, nämlich dass es sich um eine private Aneignung des Mehrwerts handelt, die sich gegen das (moralische) Ganze, nämlich uns alle, richtet.
Es geht mitnichten darum, Tatsachen zu ignorieren, vielmehr darum, dass sie nicht für sich selbst sprechen. Selbst die Wahrnehmung einer Tatsache ist konstruktiv; daher die Überschrift “Theoriebildung durch die Wahrnehmung hindurch”(WIF.DBD, 46ff), das, was man gemeinhin unter dem Begriff “mental patterns” fasst: ich erkenne, weil in mit bestimmte Wahrnehmungsmuster wirken, die mit der Wirklichkeit, wie sie leibt und lebt, nichts zu tun haben. In diese müssen wir uns immer wieder begeben, um unserer Vorstellungen von ihr zu korrigieren, doch nicht nur das: auch Wahrnehmungsmuster: “pattern recognition”, von denen Detel im Zusammenhang mit Platon spricht, bleiben sich nicht gleich, wenn wir uns mit der soziale Praxis durch sie hindurch konfrontieren. (DEW-FKA, 263f) Der Mehrwertbegriff ist allemal konstruktiv, theoriegeladen in Detels Worten. Da bin ich mit ihm einig. Merkwürdig nur, dass man solche Plattitüden dennoch betonen muss: Begriffe (als solche) sind theoriegeladen, resp. konstruktiv, mit sozialer Praxis konfrontiert, aber, wenn man so will: “wirklichkeitsfremd”.
Schon Platon plädierte dafür, so lese ich Detel an gleicher Stelle, hinter die Tatsachen zu schauen, zumal dann, wenn man “über” sie “etwas” aussagen will. Ich möchte es mal so ausdrücken: die Präposition “über” verweist auf Metaphysik, gleichsam auf etwas “Wirklichkeitsfremdes”. Platons Plädoyer hat freilich einen Schönheitsfehler: er billigt dem auf Metaphysik verweisenden “Wesentlichen” unmittelbar gegenständliche Realität zu, so wie die Antike fest der Meinung war, dass den Göttern eine gegenständliche Realität zukomme mit allen Schwächen wie sie auch bei Menschen zu beobachten sind. Platon dachte freilich schon etwas weiter; für ihn ist das Formgebende göttlich und real zugleich, um nicht zu sagen: wirklichkeitsmächtig. Ohne Ursache keine Wirkung – keine Welt. Die Dinge auf der Welt bedürfen eines Schöpfers, eines “ersten” Anstoßes. Das gilt auch für moralisch-soziale Strukturen, für die Gesellschaft als Ganzes. Letztlich glaubte Platon an den Universalismus des Ursache-Wirkungs-Prinzips im Kontext eines “Ganzen” in der Welt der sozialen Sachverhalte.
Auch wenn es unmöglich ist zu sagen, dieser oder jener Arbeitnehmer produziere, empirisch belegbar, Mehrwert, so gehen wir dennoch davon aus, unsere Vorstellung sei richtig, derzufolge Mehrwert (im Kontext des Ganzen) produziert werde; auf der Basis des Wertgesetzes. Wiederum auf der Basis des Wertgesetzes lässt sich freilich sagen, dass bestimmte Arbeiten oder technisch-maschinelle Verrichtungen, so die Arbeit des Kaufmanns oder die Maschine als solche, keinen Mehrwert produzieren, auch wenn ohne sie kein Mehrwert produziert werden könnte. Doch auch das ist nicht nicht belegbar. Wert und Mehrwert verweisen nicht auf Tatsachen, die sich zu einem Ganzen zusammenfügten, sondern von vornherein auf ein Ganzes. Und so ist der Kapitalismus auch nur als Ganzes oder gar nicht analysierbar. Er lässt sich in einzelne Teile zu analytischen Zwecken zerlegen, ohne freilich dem Ziel beweiskräftiger Empirie auch nur einen Schritt näherzukommen.
Laut Theorie (Vorstellung von ökonomischer Realität) vermag allein lebendige Arbeit zur Herstellung einer Ware(Mehr-)Wert zu produzieren, was nicht heißt, dass jeder Ware Mehrwert zukommt. Die Ausbildung eines Schülers zur Herstellung der Ware “Arbeitskraft”, z.B., oder die Bewegung einer Ware von Ort A nach Ort B zu Handelszwecken ist nicht mehrwertbildend, sondern mehrwertabschöpfend. Ebensowenig fügt der Spediteur, der für einen Handelsunternehmer unterwegs ist, der Ware, die er transportiert, einen (Mehr-)Wert hinzu. Wobei “hinzu” bedeutet: etwas hinzufügen über das hinaus, was der Gegenstand (Maschine, Mensch) selbst wert ist, mithin als Wert schon in ihm vergegenständlicht ist. Aber der Händler überträgt noch nicht einmal (wie Arbeiter und Maschinen) seinen eigenen Wert auf die Ware; er schöpft ausschließlich Mehrwert ab, der zuvor, in der Produktion der gehandelten Ware, generiert wurde. Demgegenüber vermag die Maschine nur den Wert zu produzieren, der in ihr enthalten, bzw. vergegenständlicht ist. Sie schöpft aber keinen Wert ab, wie es dar Handelsunternehmer tut. Sie verbraucht im Produktionsprozess nur sich selbst: sie überträgt einen Wert, der ihr durch lebendige Arbeitskraft hinzugefügt wurde, als sie produziert wurde, auf die zu produzierende Ware (Wertübertrag, Abschreibung).
Und weil wir es hier nur mit Vorstellungen über die kapitalistische Realität zu tun haben, auf denen die gesamte Marxsche Theorie gründet, ist es gleichfalls nur eine Vorstellung zu sagen, der Mehrwert sei etwas, was dem Arbeitnehmer zustünde. Fehlanzeige; denn wie soll dem Arbeitnehmer etwas zustehen, was sich nicht quantifizieren lässt? Der Arbeiter bekommt im Kapitalismus genau das, was ihm zusteht. Marx zufolge ist der Kapitalismus als Ganzes der Fehler und nicht, dass in ihm dem Arbeiter etwas vorenthalten würde. Deshalb gehört er abgeschafft. Es kenne keinen Linken, der das begreift, schon gar nicht die, die – wie Habermas und andere Gutmenschen – im Zusammenhang mit dem Wertgesetz unenetwegt von Entfremdung und Verdinglichung faseln und meinen, der Kapitalismus sei (technisch-ökonomisch) aus sich heraus zivilisierbar (vgl. Bürgerbrief C17 und C18). Das mag daran liegen, dass die meisten Marxkenner, oder solche, die sich dafür halten, Marx mit Schweiß auf der Stirn nur rezipieren, also nachbuchstabieren (oftmals nicht einmal korrekt), anstatt dass sie die Marxsche Theorie interpretieren, um sie für die heutigen ökonomischen Verhältnisse fruchtbar zu machen. (vgl. WIF-DBD, 165f)
Nach dem letzten Bürgerbrief C24 (“Ist der Kapitalismus noch zu retten”) habe ich eine EMail von Holdger Platta erhalten, in der er sich zur Mehrwertproblematik wie folgt äußert:
ohne dass man sagen kann, sie bezögen sich unmittelbar auf den Bürgerbrief. Eine Mail äußerte sich zur Mehrwertproblematik, eine andere von Paul Jöns nahm Stellung zur griechischen Überschuldung und Maßnahmen zur Überwachung und Einschränkung des griechischen Bargeldverkehrs. Für mich die sich freilich nicht unmittelbar auf den Text verweisen. So erreichten mich z.B. Anmerkungen von Holdger Platta zur Mehrwertproblematik, ein sehr schwieriges, v.a. vielschichtiges Thema, um das sich Wissenschaftler bis heute bemühen, oftmals sehr missverständlich, da sie ihr Wissen um die Mehrwertproblematik in der Regel vom Hörensagen über Marx schöpfen, anstatt seine Schriften selbst zu befragen. Aber auch die Entwicklung und Darstellung des Mehrwertbegriffs im “Kapital” von Marx kann zu wohlbegründeten Missverständnissen führen, z.B. dort, wo es Marx wesentlich um die Abgrenzung des Mehrwerts im Kapitalismus vom kaufmännischen Mehrwerts der entwickelten Warenzirkulation (G-W-G’) zu tun ist.
Ausgangspunkt ist die Frage, wie der Gewinn, den der Kaufmann macht, entsteht, bzw. aus seiner Entstehung heraus zu verstehen ist; wie unterscheidet er sich vom Gewinn, den der Kapitalist im Kapitalismus (durch die Ausbeutung des Arbeiters) erzielt. Im “Kapital” benutzt Marx in beiden Fällen den Begriff “Mehrwert” und entwickelt mit fortschreitender Analyse zugleich einen grundlegenden Unterschied zwischen Mehrwert des Kapitalisten und Mehrwert des Kaufmanns:
Der Kaufmann erzielt Gewinn über Kauf und Verkauf von Waren (entwickelte Zirkulation: G-W-G’), wobei G für den Warenkauf und G’ für das erlöste Geld aus dem Warenverkauf steht.
Die Differenz ∆G (G’ - G) streicht der Kaufmann als Gewinn ein (Kapitalbildung). Wesentlich ist nun, dass der Kaufmann dadurch, dass er Gewinn erzielt, den Waren keinen Wert in Höhe von ∆G hinzufügt. Die Waren bleiben, was ihren Wert betrifft, das, was sie sind. Der Kaufmann verändert ihren Wert nicht. Wert wird den Waren ausschließlich in der Produktion durch lebendige Arbeitskraft hinzugefügt; so will es das Wertgesetz.
Mit anderen Worten: der Gewinn des Kaufmanns, resp. die Kapitalbildung in der Zirkulation hat mit der Wertbildung, resp. der Kapitalbildung in der Produktion (durch lebendige Arbeit) nichts zu schaffen,
Entscheident ist aber, dass der Kaufmann dadurch, dass er Waren transportiert und verkauft, selbigen Waren keinen Wert hinzufügt. Dazu bemerkt Marx im “Kapital”:
Ich möchte es mal so ausdrücken: es mag durch den Warenhandel Mehrwert, den der Kaufmann abschöpft, geben, allein Mehrwertproduktion gibt es nur durch lebendige Arbeitskraft, die in der Produktion tätig wird. Das, was in der Marktsphäre bzw. Finanzsphäre passiert, hat mit Produktion nichts zu schaffen. Werte, die dort nicht produziert, aber abgeschöpft werden, werden dem Arbeiter denn auch nicht vorenthalten oder gestohlen; nein, dieser wird allein in der Produktion erzeugt und richtet sich insgesamt gegen den Arbeiter, am Ende gegen die Gesellschaft und ihre Mitglieder, vor allem dann, wenn dieser Mehrwert in der Produktion immer weniger zureichend bis am Ende gar nicht mehr produziert wird. Dann fällt die kapitalistische Produktion in sich zusammen – gegen alle, denn wird fast nichts mehr produziert, können auch die Reichen mit ihrem Geld nichts mehr kaufen. Das ist natürlich ein fiktives Szenario. Denn der Kredit, das Leben auf Pump auf stets steigender Stufenleiter (bis die Blase platzt), vermag zu verschleiern, dass kaum noch Mehrwert durch lebendige Arbeitskraft produziert wird: das der überwiegende Teil der Arbeitnehmerschaft gar nicht mehr so viel produziert, um wenigstens sich selbst zu erhalten, geschweige denn, dass er über das, was er selbst verbraucht, hinaus produziert für den Kapitalisten. Platzt die Blase, wird dieser Zustand von einem Augenblick zum nächsten blutige Realität: Ihre Spar- und Sichteinlagen sind sicher; dafür garantiere ich, so Kanzlerin Merkels Worte. Von wegen. Sie verspricht etwas, was sie unmöglich halten kann: es findet eine vollkommene Entschuldung des gesamten Finanzsystems statt zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung. Dieser Zusammenbruch ist bisher ausgeblieben. Aber nur deshalb, weil die Schulden exponentiell weiterwachsen. Und sie müssen weiterwachsen, um den Offenbarungseid zu verhindern. Und wenn der Schuldendienst von unten, vom Blut der arbeitenden Bevölkerung nicht mehr bedient werden kann und die Reichen auch nichts mehr in das marode System pumpen, kommt die Zeit kurz vor dem Kollaps: wo man den Schuldendienst immer offensichtlicher durch noch mehr Schulden bedient. In dieser Situation sind wir. Es muss nur noch irgendwo ein Sprengsatz hochgehen; in China, Griechenland oder vielleicht in Italien, wo durch Berloscuni auasi-mafiotische Zustände herrschen, also alles möglich ist, wovon wir uns jetzt noch nichts träumen lassen.
Wesentlich ist aber, dass alles durch den Mehrwert lebendiger Arbeit finanziert (prodoziert) werden muss und sei es am Ende auf Kosten der Reproduktionsfähigkeit der Arbeitskraft. Bevor kein Mehrwert mehr produziert wird und dies auch nicht mehr durch ein Leben auf Pump verschleiert werden kann, bekommt selbst derjenige Arbeiter, der noch am ehesten zur Mehrwertproduktion in der Lage ist, nicht mehr das, was er braucht, um sich zu reproduzieren, mithin einen Nachkommen zu erzeugen, der ihn ersetzt, wenn er stirbt oder nicht mehr produzieren kann. Dieses Damoklesschwert reproduktiver Unfähigkeiten schwebt schon lange über der Gesellschaft. Der Sprengsatz, der dieses Schwert in Bewegung bringt, muss nur noch irgendwo gezündet werden. Vielleicht in 2 Jahren, vielleicht in 5 Jahren oder erst in 10 Jahren; die meisten von uns werden es noch erleben. Und dann Gnade uns Gott.
Und das Produktionskapital (Maschinen, Rohstoffe, Hilfsmittel) kann uns nicht helfen; im Gegenteil, je mehr der Aufwand an Produktionskapital (C) im Verhältnis zum Aufwand an lebendiger Arbeitskraft (V) steigt, desto prekärer die ökonomische Situation, desto mehr richtet sich der Mehrwert, oder das, was von ihm immer weniger übrig bleibt, gegen die Bevölkerung (gegen uns alle). Diese Widersinnigkeit gilt es zu begreifen. Vergeblich. Die Widersinnigkeit, dass uns Maschinen im Kapitalismus nichts bringen, wird wegschwadronniert. Ich kenne kaum jemanden, der in diesen Gesang nicht einstimmt, ganz besonders die Gutmenschen aus der linken Ecken und den Gewerkschaften. Die singen besonders fleißig. Alle sagen sie:
Das (Produktions-)kapital erzeuge Einkommen;
dies müsse man für den Sozialstaat besteuern
Es heißt, man dürfe nicht nur den Arbeitnehmer, sondern müsse alle Einkommensarten für die Aufrechterhaltung des Gemeinwesens heranziehen. Ihm wesentlichen meint man Zinsen auf Kapitalerträge. Die Schweiz mache es uns vor. Dort gäbe es eine Bürgerversicherung; eine Rentenversicherung, in die alle einzahlen, auch diejenigen, die von ihren Zinsen leben. Mein Gott, ein Königreich für ein wenig Logik und Mathematik. Das ist wie auf den Zuschauerrängen. Wenn sich nur wenige Menschen erheben, um die Show besser verfolgen zu können, geht’s ihnen ganz offensichtlich besser. Erheben sich immer mehr, um besser sehen zu können, gehts den Sitzenbleibern immer schlechter, z.B. uns mit unserem Sozialversicherungssystem. Machen wir es nun allen nach und stehen ebenfalls auf, sind wir wieder da, wo wir waren, als noch fast alle saßen. Natürlich profitieren die wenigen, die stehen, von der Masse, die sitzen und ihren Arsch nicht hoch kriegen. Das Problem ist, die Analysen schauen platt auf Tatsachen, die ins Auge springen, z.B. auf die reiche Schweiz, und zu wenig auf das Ganze. Das lebt, oh Schreck, ganz anders, als es uns die offensichtlichen Tatsachen lehren. Davon wollen die Menschen nichts wissen, allen voran unsere Elite. “Die Linke” kann man hier völlig abschreiben. Zum dumm, um Milch zu holen. Marx würde sich im Grabe umdrehen.
Wahr ist, das Produktionskapital produziert keinen Mehrwert, wenn auch auf ganz andere Weise, als es das Kaufmannskapital nicht tut; dieses schöpft Werte ab, die in der Produktion durch lebendige Arbeit erzeugt werden; im Kapitalismus schöpft es Mehrwert ab, während das Produktionskapital, von der lebendigen Arbeit in Bewegung gebracht, zwar Mehrwert enthält, freilich, in der Produktion angewand, keinen Mehrwert verbraucht; es überträgt nur seinen eigenen Wert auf die zu produzierende Ware. Wird die Maschine allerdings in einem vorangehenden Produktionszyklus produziert, wird natürlich Mehrwert produziert, durch? lebendige Arbeitskraft, die sie produziert. Das tut sie im nachfolgenden Produktionszyklus dann nicht mehr, sich sozusagen verdoppelnd.
Diesen eben beschriebenen Zusammenhang muss man begreifen; andernfalls begreift man im Kern die Krisen des Kapitalismus nicht. Ist die Maschine produziert, kann durch sie nicht noch ein zweites mal Mehrwert erzeugt werden. Dann wird sie auf den Markt – in die Zirkulation – geworfen, um dort von einem Kapitalisten erworben zu werden, der sie dann in einem nachfolgenden, ganz andersgearteten Produktionszyklus verbraucht, solange, bis die Maschine abgeschrieben ist, ihren Geist aufgibt. Natürlich, einige Maschine leben länger und produzieren Extragewinne, andere leben weniger lang und prodzieren Extraverluste. Pech und Glück gleichen sich aus. Im statistischen Mittel, den ganzen ökonomischen Körper im Blick, produzieren sie keinen Mehrwert. Sie sorgen freilich dafür, dass die lebendige Arbeitskraft Mehrwert erzeugt, indem diese Maschinen in Bewegung setzt. Die Maschine allein vermag gar nichts, noch nicht einmal ihren Wert aufs Produkt zu übertragen. Das ist der tiefere Grund, dass letztendlich immer die lebendige Arbeitskraft die Zeche für eine Krise zahlt. Das wollen “Die Linke” und Gewerkschaften nicht wahr haben. Die denken, man könne den Kapitalbesitzern etwas wegnehmen und alles würde besser. Wie naiv. Das macht eine politische Zusammenarbeit mit ihnen überaus schwierig. Nun, wenn es Linke und Gewerkschafter nicht gäbe, die Kapitalisten müssten sie im Interesse fortschreitender
Verblödung erfinden. Hat man sich eigentlich mal gefragt, warum Gysi und Lafontaine unentwegt in der Öffentlichkeit hofiert werden und man sie endlos dummes Zeug sabbeln lässt? Nun, Lafontaine zieht sich jetzt zurück. Gott sei Dank.